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Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen

Titel: Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen
Autoren: Dirk Bernemann
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Irrtum, hat uns Nietzsche vor vielen Jahren in das Bewusstsein getrötet. Wenn er recht hatte, konnte ich ja schon mal einem Irrtum entgehen. Ich wühlte mich durch meinen Plattenbestand, und da kamen auch Erinnerungen in mich. Statt einem Tagebuch konnte man auch bequem seine Plattensammlung nach seiner Vergangenheit befragen. Eine Plattensammlung verrät manchmal mehr über einen, als die eigene Mutter imstande war zu erzählen. Sie erzählte von Lieben, Idealen und Trümmern eines Lebens.
    Als hätte ich jemals Ideale gehabt, einen Idealzustand. Alles hier war und ist und bleibt nur Phase. Feiner Song mit passend formulierter Härte. Ich lief aus aus dem Hafen des Schicksals, mein undichtes Boot war mein Leben, mein Steuermann die eigene Flugunfähigkeit, und dann erinnerte ich mich an ein Sprichwort: Kurze Strecken gehen Vögel auch zu Fuß. Ich glaube, ich würde nie mehr zu Fuß gehen, wenn ich fliegen könnte.
    Später ging ich aus dem Haus, tauchte ins Tocotronic-Wetter ein. Ein Sonntag, gefüllt mit eigenartiger Stimmung, und das Tagebuch, dem ich das hätte erzählen können, gab es gar nicht. Es gab nur mich, und ich musste mir immer selbst antworten. Ich suchte eine Position im Leben, vielleicht Meinungen und Erkenntnisse, die von Belang sind. Ich war jetzt fünfunddreißig, stand mitten in einem Leben, das ich mir so nie gewünscht hätte, und fand dieses Leben trotzdem irgendwie interessant. Es gab ein Hinten und ein Vorn, ein Links und ein Rechts, ein Oben und ein Unten, und es gab so was wie Orientierung, den inneren Routenplaner. Der war bei mir aber defekt. Wenn mich das Teil um die Eingabe eines Fahrziels bat, damit es mir den kürzesten, energiesparendsten und effizientesten Weg dorthin vermitteln konnte, dann scheiterte ich schon an der Definition von Ziel . Was will ein Ziel von mir? Und warum ist der Weg dahin immer unsichtbar? Ein Ziel ist ja immer auch das Ignorieren und Vergessen anderer Ziele.
    Ich war auf dem Weg zur Bushaltestelle. Ein Kurzzeitziel. Die Bushaltestelle. Ein Platz, an dem täglich Weichen gestellt werden. Heimkommen und Verreisen geben sich hier die Hände und Abschiedsküsse und Wiedersehensumarmungen. Hier werden Entscheidungen getroffen, aber ich hatte heute einen Weg vor mir, der mir schon bewusst, weil automatisiert war. Es war Sonntag.
    Mit mir warteten noch ein paar Ghettokids auf die Linie 7. Das waren so kleine Klischeerapper, drei an der Zahl, und die dialogten sich schwallweise was gegenseitig in die kindlichen Antlitze. Ihre Sprache so undeutlich und faulgrau wie trüber Regen. Verbaler Schlachtabfall. «Ey, was’n, die Bitch hat mich abgefuckt, Alda, dafür bekommt sie ins Maul geschlagen.» Der Typ, von dem diese gewaltverherrlichende Aussage ausging, war allerhöchstens fünfzehn, stark adipöser Fettschürzenträger und irgendwie hautkrank. Er trug einen blauen Adidas-Trainingsanzug, der sehr edel und gepflegt erschien im Gegensatz zum Wortschatz und Denkmuster seines Trägers. Seine wortunterstützenden Bewegungen wirkten wie Spasmen. Die Hand schnellte bei jedem herausgespuckten Wort durch die Leere der Atmosphäre, als wollte er die Luft mit Handkantenschlägen und Fingerzeigen zerteilen. Einer seiner Freunde hob ebenfalls an, die Unterhaltung in Gang zu bringen. «Ey, der Bitch aufs Maul zu geben is doch kacke, Digga. Ey, Mann, man schlägt keine Mädchen.» Der, der das gesagt hatte, sein kleiner, ebenso schlechthäutiger Freund mit größerer Mütze als Kopf und eine dürre Nike-Werbung beklebte Litfaßsäule darstellend antwortete eher pazifistisch, und der Dicke schaute ihn darauf verächtlich an. Neben den beiden stand ein dürrer arabisch wirkender Typ, mit angedeutetem Bartflaum, auch in sportliche bequeme Schnellfickerhosen gehüllt und irgendwas auf dem Kopf, was sowohl Geschenkkörbchen als auch Baseballmütze darstellen könnte. Er schwieg, und der Adidas-Mann sagte dann zu Freund Nike: «Ey, mein Herz is am Bluten wegen der Bitch, Alda, ey, ich mach die Alte Körperkontakt, die alte Zivilistensau. Ey, ich prügel das Mistmädchen, bis sie lacht.» Was da wohl vorgefallen war? Unnachvollziehbar, aber eine Erkenntnis kroch trotzdem zu mir herüber. Das Ghetto hatte Gefühle, wurde mir da bewusst, die Wut regnete mit dem Wortschwall zwischen die anderen beiden Jungs, und die schwiegen und standen cool da, und der Adidas-Adipöse machte wirre Gesten, wie sie ein außer Kontrolle geratener Roboter machen würde, wenn der Akku voll aufgeladen ist,
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