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Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen

Titel: Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen
Autoren: Dirk Bernemann
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Rückenlehne, von dem aus man betrachtet, was man mag und verachtet und sich ab und zu einen Rundflug über seine Vergangenheit gönnt. Mit Altersmilde erreichen meine ich, zumindest ab der Mitte meines Lebens die Möglichkeit der inneren Ruhefindung zu haben. Jetzt stehe ich in der Mitte dieser einen Möglichkeit, dieses einen Lebens, und um mich herum explodieren die Zeiten, und die Ereignisse schlagen um sich wie Boxer, die nicht mehr aufhören können zu prügeln; und ich fühle mich als Opfer, als Zivilist, als reaktionsarmes Ding. Es gibt kaum noch Gefühle, nur noch Reaktionen, Reaktionen auf den Umstand, dass das Leben ein Fluss ist, dessen Geschwindigkeit ich weder beeinflussen noch messen kann. Er fließt einfach und irgendwann versandet er, wird vom Boden aufgesaugt und verschwindet. Übrig bleiben vielleicht Memoiren, kleine Fetzen wertschätzende oder aber auslachende Dokumentation. Und ich, der unbedeutende Mensch, der ja statt Wurzeln Füße hat, der geht am Flussufer spazieren und fühlt sich wie ein nackter Nichtschwimmer im Hallenbad am Beckenrand. Immer die Angst hineinzufallen.
    Mir wurde als Kind und Jugendlicher so viel erzählt über diese Altersmilde. Sie sei das Tuch, das sich über unkontrollierbare Gefühlsregungen lege, um diese abzuschwächen. Ein Zaubertuch gar, und ich wartete auf die Magie dieser Augenblicke, ich wartete auf die Kontrolle über mein Leben. Bücher und Filme und Geschichtenerzähler haben mein Bewusstsein damit zu füttern versucht, wie es sein kann, wenn man über dreißig ist und ein ruhiges Leben möglichst nicht an einem vorbei, sondern durch einen durchfließt. Und dieser Durchfluss Leben, den wollen doch alle in den Leib geballert haben, am liebsten ohne großartig Abtanzbewegungen Richtung Abgrund machen zu müssen.
    Ich fühle mich in meinem Leben oft, als säße ich in einem großen Kinosaal, die Eintrittskarte überteuert, der Vorfilm massiv unlustig, das Popcorn zäh und flau und die Kinder auf den Nebensitzen sind unaufmerksam, rascheln mit ihren Gummitiertüten und reden wirre Quergedanken. Und man wartet auf den Hauptfilm, die ganze Zeit wartet man, fühlt sich wie ein Stundenzeiger, der von den blöden Sekunden- und Minutenzeigern abhängig bleibt, und fühlt nichts außer die Angespanntheit der Erwartung. Und während man sie durchlebt, diese abstrakte Erwartungsschwierigkeit, währenddessen also fällt einem auf, dass die eigene Existenz so banal wie ein Regenschauer in Nordengland ist.
    Das ist in etwa das Gefühl, das ich in der Jetztzeit mit mir rumschleppe; viel gesehen und nicht wirklich was erreicht zu haben. Auch sind Ziele nicht mehr das, was Ziele mal waren, als ich ein Kind war. Es sind derzeit Ziele in mir am Start, die nach einer undefinierten Veränderung schreien, weil alles im Ab- oder Umbruch ist. Die Gedanken werden immer unklarer, manchmal sieht es in mir aus wie ein abstraktes Kunstwerk, von dem man denkt, das hat gerade ein Geistigbehinderter im Ausdrucksmalen veranstaltet und ist dann abgehauen, weil es irgendwo Kuchen gab. Ein wirres Farb- und Formenspiel, das sich aber zu ernst anfühlt, um wirklich ein Spiel zu sein.
    Ein Ziel ist: überleben und Gefühle haben.
    Das Leben ist kein Theaterstück, für das es Rezensionen gibt. Wäre es so, dann wäre der Dramaturg meines Lebens ein misanthropischer Pfandflaschensammler, nach toten Fischen und abgestandenem Alkohol riechend, der sich nur zum Spaß mein Leben ausgedacht hat, und zwar nur wegen des Umstandes, seine eigene Kümmerlichkeit aufzuwerten. Und vielleicht hätte er mal Glück und es käme zu einer Aufführung dieses Stückes trister Theaterlandschaft, dann würde eine Rezension wie folgt in einer durchschnittlich abgeranzten Lokalzeitung stehen:
    Gestern fanden sich im Sorgtheater fünf Zuschauer ein, um der wohl langweiligsten Aufführung seit Bestehen des Hauses beizuwohnen. Zwei verließen den Theatersaal nach dem ersten Akt. Zum Inhalt kann ich leider nicht viel erzählen, weil ich einer von denen war, die nach dem ersten Akt verschwunden sind, um in eine triste Bahnhofskneipe umzusiedeln, hinter deren Tresen eine verruchte Fünfzigjährige rauchte und schale Biere zapfte, aber immerhin besser als dieses Stück.
    Keine Premiere, sondern immer nur banale Proben, und das Theaterstück, das Leben heißt, soll endlich vor dankbarkeitserzitterndem Publikum uraufgeführt werden und nicht bloß in den kleinen Pisskatakomben der eigenen jämmerlichen Existenz stattfinden. Das
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