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Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen

Titel: Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen
Autoren: Dirk Bernemann
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Bewusstsein. Ich sehe meiner Mutter noch beim Hinausstarren zu, sie lächelt und sagt leise, fast monologisierend: «Kohlmeise, haben Sie gehört, da war eine Kohlmeise ...» Ich nicke und sage: «Ja, Mama, eine Kohlmeise ...» Sie starrt weiter die endlose Leere draußen an. Ihre Mimik bleibt gleichbleibend stur, das Starren in die Tiefe des Nichts verlangt ihr anscheinend absolute Konzentration ab.
    Meine Mutter ist nicht mehr in sich zu Hause. Wohnt nun woanders. Da ist diese fremde Frau in ihr, die die Gewalt über ihren kleinen Körper übernommen hat; die Hülle meiner Mutter ist die einer übriggebliebenen Entmachteten. Sie ist ausgegangen, irgendwo hin, schon vorgegangen, wo ich ihr nicht folgen kann, weil der Weg über ein sprudelndes Gehirn hinausgeht.
    Nachdem ich meine Mutter für ungefähr fünf Minuten betrachtet habe, stehe ich auf, die Schokolade wiege ich in der Hand. «Ich geh dann mal, Mama.» Ich bin ein hilfloses Ding. Meine Mutter schaut weiter aus dem Fenster, und ihr Gesicht ist ohne Ausdruck, ohne emotionale Regung. Krasser Moment, denke ich, unbedingt speichern, falls ich irgendwann emotional so tot sein sollte und nicht mehr weiß, was Leiden ist. Sauerstoff weigert sich, durch meine Luftröhre in mein Gehirn einzutreten. Ich glaube auch, meine Mutter lässt gerade ihren Urin laufen, zumindest riecht es so. Organischer Kontrollverlust. Erst geht das Gehirn aus, dann geht alles kaputt. Jetzt sehe ich es, sie hat sich einen dunklen, triefenden Fleck in den Jogginganzug gepresst. Augenblicklich beginnt es nach Scheiße zu stinken. Körperfunktionen verabschieden sich, Schließmuskel heißen Schließmuskel, weil sie halten sollen, was kommt; bei meiner Mutter werden viele Muskeln und sonstige Körperteile durch Auflösung ihres Gehirns ihrer Funktion beraubt.
    Zeit zu gehen, Zeit zu fliehen. Zeit. «Bis nächste Woche, Mama», sage ich noch, um zumindest für mich einen Schnitt hinzukriegen, der sich wie das Ende einer wirklichen Begegnung anfühlt. Meine Mutter schweigt, vollgekackt und gleichbleibend gefühlssteril. Ich könnte ihr jetzt helfen, sie auf ihrer Toilette sauber machen, ihr beim Umziehen helfen, aber ich habe die Befürchtung, dass, weil sie mich ja für einen Fremden hält, die emotionale Belastung für sie zu überbordend ist. Wo ist meine Moral?, frage ich mich dann aber öffentlich anklagend. Meine Mutter scheißt sich vor meinen Augen ein, und ich bin nicht mal imstande, sie sauber zu machen, weil ich mich mittlerweile selbst für einen Fremden halte. Ich glaube, meine Mutter hätte es keine Sekunde ausgehalten, mich im Eigenkot zu wähnen. Das unterscheidet uns anscheinend, dazwischen liegen über dreißig Jahre. Vielleicht ist die Moral einfach abgeflacht, jemand hat sie stumpf gemacht, die Moral, und was jetzt übrigbleibt, ist eine vollgeschissene Mutter, die konzentriert aus dem Fenster schaut. Das Zimmer ist erfüllt vom Scheißegeruch, die rosafarbene Jogginghose hat am Arsch eine anklagende und verfärbte Ausbeulung, und ich will weg, will woanders atmen, will ein Kind sein, das von einem Wald umgeben ist und sich für Vogelstimmen interessiert.
    Ich betrete leise und gedankenverzerrt den Flur, in dem es heftiger als zuvor nach hochkonzentrierter Harnsäure müffelt. Dieser Geruch ist ein gnadenloser Urteilssprecher, er zwingt den Riechenden zur Beschäftigung mit sich selbst. Der Pippigeruch will von mir, dass ich aus ihm lerne, dass ich die Vergänglichkeit endlich endlos akzeptiere, sie walten lasse und mich ins Nichts meiner Existenz fallen lasse. Er führt einem vor Augen, dieser Geruch, dass es nur eines zufälligen Abbaus im Hirn bedarf und schon verliert man die Kontrolle über das, was oder wer man ist, und man wird gewaschen, gefüttert und sauber gemacht. Zwischen konsequent selber scheißen und der Tragik der Unfähigkeit seinen Schließmuskel zu steuern liegen vielleicht einige Millimeter abgebautes Gehirn.
    Aus dem Nachbarzimmer höre ich Frau Bender brüllen. Irgendwo fällt eine Tasse runter und das Geschrei von Frau Bender verstummt kurz, nur um dann nach fünfzehnsekündigem Einhalten noch intensiver zu werden. «Wota, wota, äh, wota, wota äh ...»
    Die Gehirne legen sich sediert zur Ruhe. Irgendwo klopft jemand gegen eine Tür, als stünde ihm diese im Weg zu einer Art Freiheit, die es zu erreichen gilt. Ein Mann schreit. Ich laufe einige Schritte, da ist das Treppenhaus. Ich habe noch immer den Kot meiner Mutter in der Nase, ich rieche ihre
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