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Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen

Titel: Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Bernemann
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Ausscheidung, als hätte ich mich damit eingerieben. Riecht so Moral? Oder Schuld? Oder unterlassene Hilfeleistung? Da sind noch ein paar Treppen zu gehen, die ich unbewusst nach unten steige.
    Ich betrete die Eingangshalle und atme ein wenig. Bewusste Frischluft. Hier ist immer noch ein reges Treiben. Rollstühle, Rollatoren, Eindrücke, Ausdrücke; die sogenannte Kunst an den Wänden erzählt, wie toll Katholizismus ist, und Frau Overberg ist auch noch da und hat den Mund voller Bienenstich. Sie ist vollends und hingebungsvoll mit diesem Stück Kuchen beschäftigt.
    In einer Ecke sitzt auf einer Bank ein Mann, der Plattdeutsch mit sich selbst spricht. Es geht um Ackerbau und Viehzucht, und der Mann rechnet sich agrarwirtschaftliche Erfolge aus. Er spricht mit sich über seine Milchviehzucht und antwortet sich permanent selbst, wenn er Fragen dazu aufwirft.
    Frau Overberg sieht kurz zu mir auf, ihre Wangen sind ausgebeult und sie kaut schmatzend. Ich nicke ihr zu. Ich stehe eigentlich neben mir und der, der ich nicht bin, nickt Frau Overberg freundlich grinsend zu und sagt so Sachen wie: «Bis nächste Woche dann, ja, sie war gut drauf, hatte viele gute Momente heute, na klar hat sie mich erkannt», und der, der ich wirklich bin, geht auf Frau Overberg zu und zieht sie aus ihrem Anmeldekabuff heraus, um ihr dann den Kuchen aus dem fassadenfrohen Gesicht zu prügeln und ihr die Kuchengabel in die Schweinsaugen zu stecken. In meiner Vision stimmen noch andere Besucher und Bewohner von St. Anna in die Overberg’sche Verprüglungsorgie ein. Irgendwann kommt einer auf die Idee, ihr von seinem Blasenkatheter zu trinken zu geben, und da verschmelzen meine beiden Ichs wieder und ich bin an der Drehtür des Vergessens angelangt.
    ***
    Die paar Schritte, ach komm, die paar Schritte und dann stehe ich da und bin atemlos vor Unglück, und es ist wieder wie erwartet, nein, schlimmer noch, die Kontrolle über alles ist weg, meine Mutter ist auch weg, obwohl sie noch da ist. Sie ist aber nur noch irgendwie da, das, was mal meine Mutter war, ist jetzt eine lebendige, menschliche Ruine, die immer mehr vom Verfall einer großen Krankheit zerfressen werden würde.
    Ich stand an der Bushaltestelle und rauchte, als ob der Prozess des Rauchens irgendetwas am Prozess der Vergänglichkeit ändern würde. Nun gut, wenn man den Gesundheitsministeriumswarnungen glaubt, dann verkürzt das Rauchen die menschliche Existenz und beschleunigt den Prozess der Vergänglichkeit. Ich ließ es darauf ankommen.
    Der Straßen- und Menschenlärm eines beschleunigten Sonntags drang nicht an mich heran. Wie automatisiert und programmiert war ich die Schritte hierher gelaufen, von der Seniorenwohnstätte an dieses Bushaltestellenwartehäuschen. Überall gibt es diese Stätten und Plätze, an denen man wartet, da drüben auf den Tod und hier nur auf den Bus.
    Ich stand neben dem Bushaltestellenwartehäuschen und in meinem Kopf sah es aus wie auf einem großen Bahnhof. Nicht halten wollende, übervolle Züge fuhren durch meinen Schädel und rissen Gedanken mit, die ich gern zu Ende denken wollte; das ging aber nicht, weil alles so schnell und wie automatisiert umschaltete. Es war wieder das akute Gefühl, nichts festhalten zu können, was wichtig für einen selbst wäre, was die eigene Entwicklung vorantreiben könnte, was einen von der Trauer lossagen könnte. Aber der Bahnhof war ein gedankenvolles Haus und alle Züge Schnellzüge, die ich eigentlich alle verpasste. In vielen Gedankenzügen saß meine Mutter und winkte mir aus verschiedenen Erste-Klasse-Erinnerungen zu. Daneben: ich als Kind, ich als junger Mann, ich als der, der ich jetzt bin, ich als ich und ich als jemand völlig anderes. Meine Gedanken glichen einer Highspeed-Diashow, bei der sich jemand auf den Diaweiterschaltknopf gesetzt hatte. Die Bilder flüchteten voreinander, als wollten sie sich gegenseitig überholen.
    Das Zischen einer hinteren Bustür, die direkt vor mir Einlass in den öffentlichen Nahverkehr ermöglichte, bugsierte mich unsanft wieder in die Realität. Die Diashow endete mit einem Standbild von mir als Sechsjährigem, hinter mir meine stolze Mutter, die eine ausgestreckte Hand auf meiner kindlichen Schulter platziert hatte. Ein Bild, das mich da berührte, wo es wehtat. In meiner Herzumgebung trübes Wetter und auch die Aussichten für die nächsten Tage sagen: Das Niederschlagsgebiet erstreckt sich über das ganze Herz, aber auch südlichere Organe sind betroffen.
    Mein

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