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Die Verborgene Schrift

Titel: Die Verborgene Schrift
Autoren: Anselma Heine
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Erster Teil
    Das Frühjahr 1870 war in Frankreich voll Sonne gewesen, Frucht und Früchte hatten schier doppelt angesetzt, und die Erde stand in Blumen. Aber die Wärme war allmählich zur Hitze geworden, die Hitze zur Glut. Auf den Wiesen war das Gras verbrannt, im Obst auf den Bäumen verkochte der Saft, nur der Weizen stand hoch und golden unter dem blauen Himmel, voller Versprechungen. Ein farbiger Hitzglanz zitterte über den Gebirgen, hier durchsichtig, dort opalisierend wie fließendes Glas.
    Auch den elegant und launisch geschwungenen Linien der Vogesen verlieh er ein seltsames Leuchten, das unruhig hineinflimmerte in die kühlen Waldtäler, die Weinberge, satten Felder, grünumfriedeten Dörfer und Talstädtchen des Elsaß. Etwas Erregendes lag darin, etwas, das die Leute aufrüttelte, sie frohmutig oder traurig machte, je nach ihrem Temperament.
    In den ersten Tagen des Juli marschierte auf der breiten Mauer des Zuchthauses in Thurwiller ein kleiner »gars de Provence« gutwillig seine Runden ab; vor und hinter ihm gingen, im Abstand von je hundert Schritten, die anderen Wachtposten. Wie sie bunt und behende auf ihrer Zinne daherschrittelten, bald durch die Pappeln des Wallrandes hindurchleuchtend, bald sich grell mit ihren roten Hosen vom weißen Kapellchen oder von den abgemörtelten Zellenhäusern abhebend, ganz hoch, ganz klein, gaben sie der traurigen Anstalt etwas Keckes, Opernhaftes. Vorschriftsmäßig drehten sie die Köpfe nach dem inneren Hofe, in dem jetzt unter Schlürfen und Klirren die Sträflinge um den gelbverbrannten Rasen wanderten. Durch die Doppeltür, die von der Straße in den äußeren Hof führte, kam ein Trupp in braunen Kitteln herein,begleitet von dem Aufseher, trabte über das Kanalbrückchen und verschwand in dem langen Gebäude.
    Der kleine Soldat setzte eine wichtige Miene auf. Ah ja, es brauchte strenges Überschauen in solchen Augenblicken. Andern Tags hatte einer dieser Miserabeln sich unter dem Wagen des Chefs versteckt, fuhr mit ihm zum Tor hinaus und sprang dann ab. Nicht schlecht courage, hein? Oder sie werfen sich in den Vauban-Kanal, der mitten durch den Hof geht, diese Schweine! selbst bei einer Wolfskälte im Winter. Und dann hängen sie sich an die Eisengitter der Schleuse und feilen sie durch. Letzten Winter hat man einen mit gefrorenen Kleidern tot im Thurwald gefunden. Aber jetzt – bah! Er blickt vergnügt auf die Ill hinunter, deren Bett, von der Hitze ausgetrocknet, voll glitzernder Steine und stinkender Schlammpfützen liegt – man kann unbesorgt ein wenig umheräugeln, ins Städtchen hinein und hinüber in die kleinen Gärten am Wall.
    Unten im äußeren Hof, über dem er jetzt wieder anlangte, kamen zwei Herren aus dem Direktionsgebäude und wanderten in tiefem Gespräch auf und ab: Monsieur de la Quine, Chef der Anstalt, und Martin Balde, Maire von Thurwiller und Arzt; der Direktor lang, dünn und elegant, der Doktor von frischem, raschem Wesen, das Strohhütchen hielt er in der Hand, die goldenen Knöpfe seines blauen Tuchrockes glänzten, silbern lag die Sonne in seinem vollen grauen Haar. Wie im Olivenwalde! dachte der kleine Provençale.
    Er war jetzt auf seiner Runde beim äußersten Wachthäuschen angelangt und konnte die Hauptstraße draußen übersehen. Ein Wagen mit Stroh fuhr über die Illbrücke, der Fuhrmann sang ein Lied, der Spitz bellte. Frauen in weißen Bindemützen oder schwarzen Filethauben gingen breit und schwankend wie Frachtschiffe mit Körben und Bündeln; die rotnasige Briefausträgerin mit ihrer geflochtenen Tasche beweglich und mager zwischen ihnen. Sie fuchtelten mit den Armen und tratschten mit tiefen, lauten Stimmen. Die eine hatte ein paar Kinder am Rock, die sie plötzlich wütend zu schlagen begann,Dabei schimpfte sie. Der kleine Soldat machte einen ganz langen Hals. Er hörte das zu gern! Verstehen konnte er freilich nichts von diesem sonderbar lauten und raschelnden patois alsacien.
    Merkwürdige Leute, hier in dieser Provinz! Groß und stark sind sie und laut und blond. Und Fäuste haben sie – nom d'un chien! Wenn die sich in die Luft strecken! Aber nur keine Furcht, sie schlagen dich nicht, sie drohen nur, sie schreien auf dich ein, sie töten dich mit Schimpfworten, und dann lachen sie und trinken. Daheim in Frankreich hätte man schon längst ein Messer in den Rippen.
    Aber laßt sehen, wer kommt denn da einhergeschwänzelt? Tausend Donner! es ist das Salmele, die Magd vom Maire, o, ein »Gickele« hat sie im
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