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Neva

Neva

Titel: Neva
Autoren: Sara Grant
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    1 . Kapitel
    I ch stehe im Dunkeln. Nicht im weichen Dunkelgrau der Dämmerung oder im samtigen Schwarz einer Mondnacht, sondern in pechschwarzer Finsternis. Mein Herz flattert gegen meine Rippen wie ein aufgeregter Vogel in einem gläsernen Käfig. Ich bewege die Hand vor meinen Augen hin und her, aber ich kann sie nicht sehen. Ich hätte nie gedacht, dass es derart finster sein könnte. Meine Umrisse verschmelzen mit meiner tintenschwarzen Umgebung. Mein Vater wäre stolz auf mich. Endlich füge ich mich ein.
    Jemand berührt meinen Ellenbogen. Ich fahre zusammen.
    »Ich bin hier, Neva.« Ethan. Wie immer an meiner Seite. Er ist bei mir und doch wieder nicht. Ich taste mich an seinem Arm, seiner Schulter, seinem Hals entlang und berühre sein Gesicht. Er führt meine Finger an seine Lippen und küsst sie. »Komm mit mir.« Ich spüre seine Worte an meinem Daumen, seinen warmen Atem, das Stupsen seiner Lippen, als er die Laute bildet. Er zieht mich zu Boden. Die Ungewissheit setzt jede Faser meines Körpers in Brand. In diesem Nichts kann absolut alles geschehen. Vielleicht finden wir wieder, was wir verloren haben, Ethan und ich. Wenn wir nicht denken, nichts sehen, nur fühlen …
    Aber wir haben alle eingewilligt: kein Sex. Und das nicht nur heute. Kein Sex, bis wir sicher sind, dass wir keine neue Generation wie die unsere zeugen werden.
    Ich hole tief Luft und stoße sie langsam aus. Ich verbanne alle Gedanken, während wir auf das Nest aus Kissen zukriechen, das wir am Nachmittag in einem Winkel des Raums gebaut haben. Ich will keine Bilder in mir aufsteigen lassen, denn das würde alles zunichtemachen. Unser Ziel ist es, im Dunkeln zu entkommen, doch meine Angst hält mich gefangen. Jedes Mal, wenn das Licht ausgeht, packt die Furcht mich an der Kehle. Mir bricht der Schweiß aus, und er brennt auf meiner Haut wie Brandblasen. Ich habe es satt, ständig ängstlich zu sein.
    Ich kann das hier.
    Ich kann es.
    Ich presse die Kiefer zusammen und überhöre das Rauschen des Blutes in meinen Ohren. Bewege mich einfach voran.
    Ich stoße gegen ein paar Füße. Spitz zulaufende Stiefel. Braydon Bartlett. Vor meinem geistigen Auge sehe ich das rote Leder. Mit dieser Methode merke ich mir die Leute: Ich reduziere sie auf die Elemente, über die sie sich selbst definieren. Braydon trägt immer glänzende Stiefel, die keine Macken, keine Spuren von Abnutzung aufweisen. Die meisten von uns kennen nur gebrauchte Schuhe, die von fremden Füßen vorgeformt worden sind. Wir hätte ihn nicht einladen sollen. Obwohl er den korrekten Nachnamen trägt, der auf seine direkte Verwandtschaft mit einem unserer Gründungsväter verweist, traue ich ihm nicht wirklich. Aber meine beste Freundin hat mich bekniet. Die Narbe auf ihrer Wange sieht aus wie ein rosiges S und ist noch nicht ausgeheilt. Ihren Pflegeeltern hat sie gesagt, dass es ein Unfall gewesen wäre, aber ich habe sie den Buchstaben skizzieren sehen, bevor sie ihn mit dem Messer eingeritzt hat. Das hätte sie besser nicht getan. Wer über ein unveränderliches Kenn-Zeichen verfügt, bekommt öfter Schwierigkeiten mit der Polizei. Aber so ist Sanna eben.
    Als ich weiterkrieche, stolpere ich über ihre nackten Füße. Sie rebelliert gegen sämtliche Formen von Zwang – Schuhe eingeschlossen.
    »Entschuldige«, sage ich. Sie geht um mich herum und flüstert Braydon etwas zu. Dann höre ich ein leises Geräusch, als ihre Lippen aufeinandertreffen. Ich bin froh, dass es dunkel ist und ich nicht zuschauen muss.
    Mit der Hand taste ich großflächig über den Boden vor mir. »Hier entlang«, sage ich zu Ethan, dessen Hand meinen Knöchel berührt. Wir kriechen zusammen weiter. Die Dunkelheit erschafft die Illusion, dass wir zwei allein sind. Aber das Gegenteil ist der Fall: Meine Freunde und ich haben uns zu einem kleinen Experiment versammelt, bevor wir getrennte Wege gehen.
    Wir haben sie seit Wochen geplant, diese Party im Dunkeln. Ein letzter Widerstand, bevor wir unseren Platz als geachtete Stützen dieser Gesellschaft einnehmen. Es war Sannas Idee: Wir wollen herausfinden, wer wir sind, ohne dass der Sehsinn uns dabei behindert. Weil wir uns äußerlich so stark gleichen, nehmen wir oft an, dass wir auch innerlich ähnlich sind, und Sanna meint, nur im Dunkeln würden wir die Wahrheit erkennen. Aber ich weiß nicht so recht. Die Dunkelheit verschleiert auch.
    Sanna wollte, dass ich die Party ausrichte. Eine Dunkelparty im Haus des Ministers für Altgeschichte! So
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