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Verzweifelte Jahre

Verzweifelte Jahre

Titel: Verzweifelte Jahre
Autoren: Brigitta Sirny-Kampusch
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was nachtragt ?« Ich schüttelte den Kopf. Ich sah einen Fremden vor mir, ohne Gesicht. Einen Irren. Oder eine Frau. Eine Irre, die ihr Kind verloren und sich meines genommen hat. »Machen Sie sich keine Sorgen«, sagte der Beamte. Zum ersten Mal hatte hier jemand so etwas wie Mitgefühl. »Schauen S’, wir werden sie schon finden, wir haben professionelle Leute. Hubschrauber. Die Suchaktion läuft. Die Hunde sind draußen. Wir werden Ihnen die Natascha schon wieder zurückbringen .« Dass sie sich von selber melden könnte, damit rechnete er nicht mehr.

*

    Der Weg durch die Siedlung war so lang wie noch nie. Die Vernehmung hatte mich erschöpft, das Beruhigungsmittel machte mich langsam. Jeder Schritt war anstrengend. Ich schaute vor mich auf den Boden, bis irgendwo ein Kind lachte. Es konnte nicht älter als drei, vier Jahre sein, aber ich drehte mich trotzdem um. Ein kleiner Bub saß auf der Schaukel.
    Der Spielplatz war fast leer. Vor Stiege 38 drängten sich die Reporter. Der Spießrutenlauf begann erneut. Irgendwer griff nach mir. Ich schüttelte ihn ab. »Lassen Sie mich in Ruhe !«
    »Mama, endlich.« Sabina nahm mich in die Arme. Hinter ihr drängten sich die Enkel. Auch Claudia war jetzt da. Trotz der Beinschiene.
    Ich wollte gerade wieder Kaffee aufsetzen, als das Telefon läutete. »Hallo?... Ja?... Ich komme sofort .« »Was ist los ?« Beide Töchter sahen mich an, voll Erwartung. »Ich soll zur Polizei kommen. Zum Identifizieren. Sie haben einen schwarzen Schuh gefunden .« Ich war schon im Vorzimmer. Ein einzelner Schuh. Der Lift war noch da. Ein schwarzer Schuh. Ich lief den Weg bis zur ersten Biegung. Ich blieb stehen. Was, wenn... Ich kam an die Fundstelle. Sie zeigten mir sofort den Schuh. Ich hatte ihn noch nie gesehen. Es war nicht der von Natascha. Ich atmete durch. Eine Sekunde lang spürte ich fast Erleichterung. Aber. Wir waren keinen Millimeter weiter. Beweisstück? Ein Schuh bedeutete gar nichts. Selbst wenn es ihrer gewesen wäre. Er hätte uns nichts erzählt. Ich ging nach Hause. Vorbei an den Journalisten. Sabina hatte inzwischen Kaffee gemacht. Das Telefon läutete. Wieder die Polizei. Noch ein Fundstück. Eine Unterhose. Es war nicht ihre. Ich ging nach Hause. Wir tranken Kaffee. Das Telefon läutete. Ein Schminktäschchen. Noch nie gesehen.
    Ich ging nach Hause. Kaffee. Telefon. Ein Anorak. Rot. Mir wurde schwarz vor den Augen. Halbschuhe hat bald wer. Unterwäsche gibt es tausendfach. Schminkzeug kann aus jeder Tasche fallen. Der rote Anorak war etwas anderes. Ich sah Natascha als roten kleinen Fleck verschwinden. Ich ging zum Fundort wie zu meiner eigenen Hinrichtung. Es war ein anderes Rot. Wir waren genau dort, wo alles angefangen hatte. Wir hatten uns im Kreis gedreht. 36 Stunden lang. Keine Spur. Kein Hinweis. Nicht einmal ein Strohhalm. Die Aussage einer Zwölfjährigen, um die sich keiner scherte. Ad acta gelegt. Niemand suchte nach dem weißen Lieferwagen.

3

    Der Koch hat einen weißen Lieferwagen.
    Ich weiß nicht, wer es gesagt hat. Vielleicht ich. Denn plötzlich wusste ich, was es war, dieses Gefühl, das mich schon die ganze Zeit belauerte. Der Koch. Der Pass.
    »Sie war doch in Ungarn«, sagte Jürgen. »Ungarn ?« , fragte ein Reporter. Es kam mir nicht mehr komisch vor. Die Journalisten gehörten in die Wohnung, wie Möbel. Sie stellten immer dieselben Fragen, ich gab immer dieselben Antworten. ORF. ZDF. RTL. Wie schnell man sich an Kameras gewöhnt. Kronen Zeitung, Kurier, News. Sie schrieben in ihre Notizbücher, sie tranken meinen Kaffee, sie lagerten in meinem Wohnzimmer, sie lächelten den Enkeln zu, sie benutzten meine Toilette. Sie waren höflich, mitfühlend. Unangenehm vertraut. Sie lebten da mit uns und sie waren nützlich. Sie waren der Draht zur Welt da draußen. Wenn jemand was erfuhr, dann sie.
    »Wann war sie in Ungarn ?« Ich reagierte nicht. »Frau Sirny?« »Am Wochenende«, sagte Jürgen. »Mit ihrem Vater.« »Der Pass ist in ihrem Anorak, hat er mir gesagt. Ich hab ihn gestern auf der Nussdorfer Straße getroffen .« Ich machte eine Pause. »Zufällig.« »Dann könnte sie also auch im Ausland sein«, sagte der Reporter. Ein anderer zog seine Jacke an und klappte sein Handy auf. »Geht noch was für die Abendausgabe ?« , fragte er. »Okay, bin gleich da .«
    »Dank schön für den Kaffee, Frau Sirny .« Auf einmal hatten es alle eilig. »Gott sei Dank«, sagte Sabina, als der Letzte draußen war. »Du glaubst wirklich, sie könnte in
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