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Polarrot

Polarrot

Titel: Polarrot
Autoren: Patrick Tschan
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1929 BIS 1936
    Jack drosch unablässig auf die dampfenden Pferderücken ein und verfluchte dabei Himmel, Sterne, Gott und die dünne Luft.
    In manchen Kurven der leicht abfallenden, von hohen, kohlrabenschwarzen Tannen gesäumten Straße gruben sich die Kufen so stark in den Schnee, dass die Funken stoben. Im Fond der Schlittenkutsche saß ein Engländer mit dünnem Oberlippen-Schnurrbart, in der rechten Hand eine Flasche Champagner, die er in den Fahrtwind hielt und unablässig „schneller, schneller, Jack, hit the horses, ick will mit gefrorenem Champagne ankommen“ schrie, während seine junge Begleiterin mit Bubikopf ständig aufzustehen versuchte, sich ihr lose umgeschlungener Pelzmantel dabei weit ausbreitete, so dass ihre Brustwarzen unter dem seidenen Plisseekleidchen hoch und fest abstanden. Dabei rief sie „go harder, Jack, go harder, my nipples have to be like Eiszapfen“, bis sie in der nächsten Kurve wieder in die Sitzbank gedrückt wurde.
    Jack bekam auf seinem Kutscherbock von dem ganzen Theater nicht viel mit. Er hatte heute Nacht hoch verloren: Geld, Stelle, Kost, Logis, Gesicht, Ansehen. Morgen, fieberte er, würden sie ihn teeren und federn, auf eine gewachste Eisenbahnschwelle der rhätischen Bahn binden und unter dem Gejohle der Einheimischen und zum Gaudium der gut-betuchten Feriengäste die Bobbahn hinunterlassen. Und falls er nicht aus der Bahn geworfen, sein Kopf nicht zwischen dem Stamm einer Tanne und der Eisenbahnschwelle vermanscht werden würde, er den Teufelsritt nach Celerina überleben sollte, gäbe ihm der Direktor des Hotels Grand Palace wohl mit seiner großkalibrigen Smith & Wesson am Ende des Bob-Runs, Auge in Auge, den Gnadenschuss.
    So waren sie, die Bündner, harte Burschen mit harten Grinden. Jack, der große Schlaks mit dem zarten Gesicht und dem süffisanten Dauerlächeln hatte zum ersten Mal in seinem Leben richtig Schiss.
    Und wenn es ums Geschäft mit den Fremden ging, kannten die Bündner erst recht kein Pardon. Die Bestrafung des toggenburgischen Bauernsohns – dem man die Chance gegeben hatte, hier oben den Aufstieg des schweizerischen Tourismus zur staatstragenden Industrie nicht nur hautnah mitzuerleben, sondern als einfacher Geldbote, aber mit Aussicht auf eine Banklehre, prägend mitzugestalten – diese Bestrafung also zu einem öffentlichen Exerzitium mit garantierter Belustigung der Gästeschar auszubauen, kam ihnen dabei gerade gelegen. Schließlich musste die üppig zahlende Klientel bei Laune gehalten werden. Denn gute Laune war das beste Schmiermittel zur Erhaltung ihrer Verschwendungssucht.
    Angesichts dieser Aussichten suchte Jack in Gedanken nach einer geeigneten Stelle, an der er sich samt Schlitten, Gäulen und einem sturzbetrunkenen Paar der englischen Upperclass über eine Felswand stürzen könnte. Wenn schon verlieren, dann ganz. Und ohne tiefgreifende Spuren auf dieser Welt zu hinterlassen.
    „Hit the horses, hit the horses, Jack, like we did during the battle at Beerscheba. The letzte Schlacht mit Kavallerie. Ninteenseventeen … neunschzehnhundertschiebschzehn, only 10 Jahre ago. Wusstest du das not, Jack. We win, weil wir hit the horses, Jack, hit the horses, ick will Champagne wie Eiszapfen“, brüllte ihm der Engländer, der sich zu ihm nach vorn gekämpft hatte, ins Ohr. „Ick zahl, ick zahl für the Eiszapfen-Champagne.“
    „Eiszapfen wie Champagne, Eiszapfen wie Champagne“, kreischte der Bubikopf und sie war kurz davor, ihren Pelzmantel aus dem Schlitten zu werfen.
    Jack hatte nur „zahl, zahl“ verstanden. Ja, gezahlt hatte er. Alles, bis auf den letzten Rappen. Verzahlt und verjubelt, sein ganzes Geld. Für die größte Schmach seines bisherigen, kurzen Lebens.
    „Hit the horses, zahl more, zahl more, Eiszapfen-champagne.“ Der Engländer war drauf und dran, den Kutscherbock zu besteigen. Der Weg stieg leicht an, Jack ließ die Peitsche in einem noch schnelleren Rhythmus knallen, die Pferde zogen kurz an, der Engländer wurde in die Sitzbank neben den Bubikopf gedrückt. Jack verlangsamte wieder und schrie nach hinten: „Wie viel? How much?“
    „Hundred.“
    „Franken?“
    „Pounds. Sterling, if the Champagne is Eiszapfen.“
    „Okay.“
    Jack zog die Rechenbremse, das Pärchen schleuderte es auf die vordere Sitzbank, er wendete das Gefährt, hieb mit der Peitsche auf die Pferde ein, sie zogen an und galoppierten die schneebedeckte Straße hinunter – direkt auf den vereisten See zu. Der Engländer stand
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