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Verzweifelte Jahre

Verzweifelte Jahre

Titel: Verzweifelte Jahre
Autoren: Brigitta Sirny-Kampusch
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bemerkt haben. »Sie müssen schon verstehen, Frau Sirny«, sagte er, »zuerst suchen wir immer in der Familie .« »Aber es gibt auch noch eine andere Möglichkeit«, sagte der Kollege. Und da war es. Das Wort, vor dem ich mich die ganze Zeit gefürchtet hatte. »Ein Sexualdelikt.« »Was uns dabei auffällt, ist die Uhrzeit .« Er zögerte. »Triebtäter schlagen zu Mittag oder am frühen Nachmittag zu. Nicht um sieben in der Früh.« Niemand sprach. Die Beamten erhoben sich. »Wir werden die Suchaktion einleiten .« Die erste Nacht begann.

*

    Die Kaffeekanne war leer. Mechanisch machte ich frischen. Ich stellte die gebrauchten Tassen in den Geschirrspüler, nahm neue heraus, wischte am Herd herum. Die gewohnten Bewegungen taten gut. Ich ging in der kleinen Küche zwischen meinen kleinen Aufgaben hin und her und versuchte, die Verbindung zu meiner alten Welt aufrechtzuerhalten. Vor fünfzehn Stunden hatte ich noch ein ganz normales Leben gehabt. In meinem Kopf kreisten die Bilder. Das karierte Jeanskleid.
    Natascha im Bad. Wie sie ihre schwarzen Halbschuhe anzieht. Die Diskussion wegen der Brille. Der Klaps. Ihre kleine Gestalt, die zwischen den Bäumen verschwindet. Ich hatte ihr immer gepredigt, dass man nicht im Streit auseinandergeht. Und so war es auch immer. Nur heute nicht. Man hat einen Zorn und denkt sich nichts dabei. Glaubt, man hat jede Zeit der Welt, das wieder gerade zu richten. Ist man halt einmal nicht so gut aufeinander zu sprechen. Na und? Niemand ist perfekt. Schon gar nicht Mutter und Tochter. Natascha hat ihren eigenen Kopf. Und mir platzt auch einmal der Kragen. Wie hab ich das nur tun können? Auf einmal schien es mir so unvorstellbar. So unendlich sinnlos. Der Klaps wäre nicht notwendig gewesen. Und jetzt war er der letzte Kontakt zu meiner Tochter. Das letzte Mal, dass ich sie berührt hatte.
    »Bis morgen«, hörte ich aus dem Vorzimmer. Die Tür fiel ins Schloss. Jürgen und der Koch waren gegangen. Sabina kam allein zurück.
    »Kaffee ?« , fragte sie und goss wieder nach.
    Ich griff nach den Zigaretten. Es war die letzte in der Packung. An Schlafen war nicht zu denken. Ich starrte auf das grüne Telefon. In meinem Brustkorb wurde es immer enger, nur die Wohnung war größer ohne das Kinderlachen. Das Telefon starrte zurück. »Sie werden sich schon melden, wenn sie was wissen«, sagte Sabina. Ich nickte. »Sollen wir die Spitäler durchrufen ?« Ich schüttelte den Kopf. »Wir können nichts tun. Nur warten .« Die Zeit ließ sich zwischen uns nieder. Wir hatten nichts, um sie zu vertreiben. Ab und zu verging eine Stunde, aber die Nacht hat so viele davon. Und eine hielt sich länger auf als die nächste. Das Gespräch zog immer dieselben Schlingen um uns. Wo ist sie? Und vor allem: Hat sie Angst? Dieselbe wie wir? Die Schlingen wurden enger. Und dieses eine Wort hatte sich in ihnen verfangen. Sexualtäter. Ich zündete mir tausend Zigaretten an. Aber die Bilder gingen nicht in Rauch auf. Ich merkte nicht einmal, wie Sabina das Radio aufdrehte. »... ist ein zehnjähriges Mädchen aus der Siedlung am Rennbahnweg in Wien-Donaustadt abgängig. Natascha trägt einen roten Anorak... « Erst jetzt kamen die Tränen.

*

    Es war offiziell. Eine Radiostimme teilte ganz Österreich mit, dass mein Kind vermisst wird. Ich schrie innerlich um Hilfe, und aus dem Lautsprecher kam es heraus. So war das also. Bis jetzt war ich immer nur Zuhörerin gewesen. Auf der anderen Seite. Dort, wo’s nicht wehtut. Bis jetzt wurde ich von Nachrichten berieselt, von all den Katastrophen, die immer die anderen betroffen haben. Man fühlt kurz mit. Man denkt sich: schlimm. Man macht weiter. Jetzt war es meine Geschichte, die da schön heruntergesprochen wurde. Ruhig. Unpersönlich. Als wäre nicht der Gehsteig aufgegangen und hätte meine Tochter verschluckt.
    Da war doch dieses Mädchen, es stand in der Zeitung, vor ein paar Jahren. Verschleppt von einem Mann, der sie vier Wochen in seiner Wohnung gefangen hielt. Sie musste für ihn kochen und wer weiß, was noch. Die haben sie auch gesucht. Sie hatte auch eine Mutter. Gefunden haben sie sie nie. Oder man hat’s überlesen.
    »Mama, du bist ganz weiß im Gesicht .« Sabina nahm mich um die Schultern. »Ich hol dir was aus der Apotheke .« »Keine Tabletten. Ich nehm keine Tabletten.« »Eh nicht. Ich besorg Baldriantropfen .« Ich hörte sie hinausgehen. Aber die Tür fiel nicht zu. Ich hörte Stimmen. Ich kümmerte mich nicht darum. Bis drei Männer vor mir
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