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Verzweifelte Jahre

Verzweifelte Jahre

Titel: Verzweifelte Jahre
Autoren: Brigitta Sirny-Kampusch
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lief keine zwei. Ich schaute nicht links und rechts. Ich wusste, dass ich Natascha hier nicht sehen würde. Ich sah sie unter einer Straßenbahn. Auf einem Auto. In der Intensivstation. Ich zitterte am ganzen Körper. Nichts ging schnell genug. Der Lift. Aufsperren. Wählen. Ich musste den Koch erreichen. Immerhin ist er ihr Vater. Er hob nicht ab. Nächste Nummer. Claudia. »Deine Schwester ist weg. Sie war nicht in der Schule. Und sie ist nicht daheim. Ich weiß nicht, wo sie ist. Ist der Jürgen da? Ich muss auf die Polizei. Zum Schrödingerplatz. Kann er mit mir dort hinfahren? Ich hab Angst .«
    »Nehmen S’ draußen Platz .«
    Der Ton war harsch. Ein Polizisten-Ton. Unpersönlich. Unbeteiligt. Uninteressiert. Aber das war nicht das Schlimmste. Das Schlimmste war sitzen. In einem dieser hässlichen Vorzimmer mit nichts drinnen als drei harten Holzsesseln, einem Tisch mit sinnlosen Formularen auf dem Resopal, mit abgeblätterter Farbe an den Wänden und Fußabdrücken auf dem Linoleum, von anderen Leuten, die man hier sitzen hat lassen. Ich nahm Platz, wie er mir gesagt hatte. Und stand gleich wieder auf. Man sitzt nicht gut, wenn man wartet. Wenn man weiß, dass man auf etwas wartet, was man gar nicht wissen will. Wenn das eigene Kind verschwunden ist, irgendwo da draußen. Die Ungewissheit, die ist das Schlimmste.
    Über der Tür zum Amtszimmer hing der Bundespräsident in schwarzem Rahmen. Daneben eine Uhr. Ich folgte dem Sekundenzeiger, aber er bewegte sich kaum. Ich trat in die Fußstapfen am Boden, ging ihnen ein paar Schritte nach. Setzte mich. Stand wieder auf. Es kam kein Laut aus dem Zimmer. Die Zeit stand still. Zehn Minuten lang. Sie kamen mir vor wie zehn Jahre.
    »Das muss alles noch nichts heißen«, sagte Jürgen. Er konnte besser sitzen als ich. »Vielleicht hat sie eine Freundin getroffen .«
    »Du weißt, dass es was heißt. Natascha trifft keine Freundin.
    Und sie kommt immer gleich nach Haus .« »Ich weiß .« Dann war ich wieder allein mit dem Bundespräsidenten und
    der Uhr. Als die Tür aufging, zuckte ich zusammen.
    Der Beamte war fast breiter als der Türstock. Bullig, Stiernacken, ein riesiges Gesicht. Sein Körper sprengte fast die Uniform. Muss auch bald nachgenäht werden, dachte ich. Hätte ich ihm schon machen können, gelernt ist gelernt, ich habe mir mein halbes Leben verdient mit der Schneiderei. Was einem alles auffällt in solchen Momenten.
    »Kommen S’ rein .« »Ich möchte eine Abgängigkeitsanzeige machen, meine Tochter ist verschwunden, ich war schon am Rennbahnweg im Wachzimmer, die haben gesagt, ich muss zu Ihnen, wegen der Abgängigkeitsanzeige .« Was für ein Wort. Und doch war es das Einzige, woran ich mich klammerte. Es war die einzige Verbindung zu meinem Kind. »Mooment. Moment, Frau... « »Sirny, ich heiße Sirny .« »Haben S’ einen Ausweis ?«
    Ich kramte in meiner Tasche und hielt ihm den Führerschein hin. »Aber es geht um meine Tochter. Natascha Kampusch.« Der Beamte las jede Zeile des Führerscheins, als stünde dort alles über mich. »Und? Wo ist jetzt das Problem ?« »Meine Tochter!« »Das hat sie ja gerade erklärt«, half mir Jürgen, »Natascha ist verschwunden, sie ist vom Hort nicht nach Hause gekommen und angeblich war sie gar nicht in der Schule .« »Aha.« »Das ist nicht ihre Art, sie kommt immer gleich nach Hause. Und sie hat noch nie geschwänzt .« »Ja, das haben schon viele gesagt«, sagte der Beamte. »Nein, glauben Sie mir, da ist was passiert, ich weiß das .« »Wissen S’, Frau...« , er suchte im Führerschein, »... Sirny, heute ist eigentlich ein netter Tag, und da hat sie’s halt nicht gefreut, in die Schule zu gehen, wissen S’, wie oft wir das haben ?« Das war der Punkt. Der Punkt, an dem ich mich wieder erkannte. An dem irgendwo in mir wieder der Motor ansprang. Die Angst war nicht weg, aber ich war plötzlich stärker. Ich hätte ihm eine betonieren können. Aber ich machte es besser. »Jetzt hören Sie mir einmal zu: Meine Tochter ist seit sieben Uhr aus dem Haus. Sie wollte in die Schule, zu einer Förderstunde, ist dort aber nie angekommen. Das ist jetzt zwölf Stunden her. Sie war nicht im Hort. Sie ist nicht daheim. Und wie oft Sie so was haben, ist mir wurscht, die Natascha würde nie im Leben die Schule schwänzen. Und jetzt machen wir die Abgängigkeitsanzeige .«

*

    Es war fast acht, als es an der Tür läutete.
    »Das ist der Koch«, sagte ich, als wäre das irgendeine Lösung. Jürgen und Sabina
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