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Verzweifelte Jahre

Verzweifelte Jahre

Titel: Verzweifelte Jahre
Autoren: Brigitta Sirny-Kampusch
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schaute in den Spiegel und sah ein Gespenst. Ich hatte Gewicht verloren. Was wiegt eine Träne?
    Es gab schlechte Tage. Und es gab ganz schlechte. »Da bin ich wieder«, sagte Martin Wabl in so einen verheulten Sonntag hinein. »Wir wollten doch den Schulweg abgehen. Ich habe einen Freund mitgebracht .« »Nicht bös sein, Herr Wabl. Schauen Sie mich an. Ich geh jetzt keinen Schulweg ab .«
    Die zwei Männer vor der Eingangstür der Stiege 38 wandten sich nach rechts und versuchten, sich in der riesigen Gemeindebausiedlung zu orientieren. Es war kaum jemand unterwegs. Man hörte, wie Schnitzel geklopft wurden, es roch nach Sonntagsbraten. Alles sah irgendwie gleich aus. Zweitausendfünfhundert Wohnungen, elends lange Häuserblöcke, Fenster neben Fenster, Balkon neben Balkon. Spielplätze mit Klettergerüsten und Schaukeln, betonierte Wege, Rasenflächen mit Verbotsschildern für Hunde. Für einen Fremden war es nicht leicht, hier herauszufinden. Sie erreichten die Stufen zum Supermarkt.
    Links ein paar Geschäfte, ein Wirtshaus, gegenüber ein Blumenladen, ein Imbiss, wo die Kinder in der Früh ihre Jause für die Schule kaufen können. Alles zu heute. Die Männer ließen Natascha vor sich hergehen und folgten ihr. Vor drei Wochen war sie genau hier vorbeigekommen. Sie merkten sich jede Kleinigkeit.
    Am Ende der Passage eine Treppe hinunter, hundert Meter weiter, links das Wachzimmer, der Zebrastreifen über die Wagramer Straße. Die Ampel sprang auf Grün. Die vier Spuren der sonst so befahrenen Durchzugsstraße waren fast leer. Sie gingen den Rennbahnweg entlang. Auf den Kubinplatz. Der Himmel war grau. Wie am 2. März.
    Ein Anrainer hatte die Motorhaube offen und reparierte etwas an seinem Auto. »Sagen Sie, wo ist denn da die Schule ?« , fragte Martin Wabl. Der Mann überlegte kurz und wurde stutzig. Die zwei kamen ihm merkwürdig vor. Was wollten sie am Sonntag mit der Schule? Da lief noch immer diese Großfahndung nach dem Mädchen, das ganze Areal hier war der Tatort. »Wer sind Sie eigentlich ?« »Polizei«, sagte Wabl. Der Mann legt seinen Schraubenschlüssel auf die Autobatterie und sah sich die beiden noch genauer an. »Aha. Sie schauen mir aber nicht so aus .« Eine Frau erschien im Garten. »Schatzi, ist was ?« »Ruf im Wachzimmer an, da sind zwei komische Typen. Irgendwas stimmt da nicht .«
    »Fall Kampusch: Richter festgenommen .« Ich las die Schlagzeile ein zweites Mal. Und den Text zum Bild: »Martin Wabl, Präsidentschaftskandidat, Landtagsabgeordneter und Grünpolitiker ermittelt auf eigene Faust und gibt sich als Polizist aus .« »Jetzt haben sie den verhaftet«, sagte ich in die leere Wohnung hinein. Gestern steht er da mit einem Wildfremden und will mit mir den Schulweg abgehen, und dann sitzt er. Ich legte die Zeitung auf den Couchtisch und ging auf den Balkon. Ich schaute in den Hof und schüttelte den Kopf. Als ob nicht eh alles schon unerträglich genug wäre. Da kommen dann auch noch solche Typen daher. Ich ging zurück ins Wohnzimmer und blieb vor Nataschas Bild stehen, das in einem Rahmen auf der Kommode stand. Warum tun die das? Spielen die Samariter und sind ein Fall für die Polizei. Ach, Natascha, passiert uns das alles wirklich? Vor drei Wochen sind wir noch miteinander auf dem Balkon gestanden, erinnerst dich?, du hast mir von Ungarn erzählt, und dass es schön war mit dem Papa, aber daheim ist es noch schöner, hast du gesagt, was man so alles selbstverständlich nimmt, wir waren eine ganz normale Familie, dass es nicht so funktioniert hat mit dem Papa, das hat ja nie was mit dir zu tun gehabt, das kommt bei anderen Leuten auch vor, wir haben uns gehabt, mehr hab ich gar nicht gebraucht, wir haben’s doch immer gut gehabt, weißt du noch, damals in Mariazell?, da warst du drei und deine Augen haben gestrahlt in der Lichterlgrotte, und Paris, wie du bei diesem Preisausschreiben nicht gewonnen hast und ich dich getröstet habe, macht nichts, wir fahren trotzdem ins Disneyland, ich hab das nur so dahingesagt, aber du hast das nicht vergessen, und ich hab buchen müssen, die Parade mit den Mickymäusen, die tausenden Lichter beim Magic Mountain, das Piratenschiff, wir haben uns ewig anstellen müssen, aber dir hat das nichts gemacht, mir kommt’s vor, als wär das alles gestern gewesen, und jetzt weiß ich nicht, wo du bist, wie schaut’s dort aus?, was machst du gerade?, denkst du an mich?, ich bin jede Sekunde bei dir, spürst du das?, sicher spürst du das, ich weiß es,
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