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Verschärftes Verhör

Verschärftes Verhör

Titel: Verschärftes Verhör
Autoren: Jenny Siler
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geworden war und nur noch an wenigen Fasern zusammenhielt.
    Jamal schob die Hand in die Öffnung und holte die kleine Metallkassette heraus, die er dort verborgen hatte. Wenn er, was selten vorkam, ein bisschen Geld übrig hatte, legte er es hinein. Seit Harrys Verschwinden war es immer weniger geworden, und nun lag gar kein Geld mehr in der Kassette, sondern nur ein Fetzen Papier, auf den jemand eine betrunken schiefe Zahlenreihe gekritzelt hatte. Dazu die Buchstaben ES KEPLER, das Wort in der Mitte durchgerissen.
    Falls du jemals wirklich in Not bist, hatte Harry gesagt, während er die Nummer in das zerfledderte Buch schrieb, das er immer bei sich trug – seinen Koran, wie er es nannte. Und dann, als wäre ihm plötzlich etwas klargeworden: Aber ich kann dir nichts versprechen.
    Jamal steckte den Zettel in die Tasche und holte Kleidung zum Wechseln aus dem Karton, in dem seine Habseligkeiten verstaut waren. Alles andere würde er dem nächsten Bewohner hinterlassen, so wie es seine Vorgänger getan hatten.
    Er verließ das Zimmer und schlich die Treppe hinunter in den feuchten Keller. Suleman, der Metzger, übernachtete manchmal darin, wenn ihn seine Frau hinausgeworfen hatte. Zu Jamals Erleichterung war die schmale Liege hinter der Treppe an diesem Abend frei.
    Jamal schaltete die nackte Glühbirne ein, hob die Matratze hoch und schob Sulemans Zeitschriftensammlung beiseite. Er suchte nach dem Ersatzschlüssel für die Metzgerei, den er bei seinen früheren Besuchen gesehen hatte. Gefällt dir das?, hörte Jamal den Metzger fragen, dessen dickes Gesicht rot und verschwitzt vor Erregung war, als er Jamal seine Sammlung präsentierte. Seine Zähne waren scharf wie die eines Schakals. Jamal hatte genickt, weil er genau wusste, was man von ihm erwartete.
    Er schloss die Tür auf, die in den Lagerraum des Metzgers führte, und trat ein. Es roch noch nach den Lämmern vom Vortag, ein stechender Gestank nach Lanolin und Scheiße, der säuerliche Geruch von Adrenalin und Angst.
    Der Junge kämpfte gegen die Panik und tastete sich im Dunkeln durch den unterirdischen Schlachtraum und die schmale Treppe hinauf in den Laden. Es war die Arbeit eines Diebes, ein Gewerbe, in dem er sich auskannte, doch war er nicht zum Stehlen gekommen. Suleman bewahrte grundsätzlich kein Geld in seiner zerbeulten Registrierkasse auf.
    Jamal ging um die Schlachttische herum zur Theke, wobei er den Todesgestank des Ladens einatmete. Ranziges Fett und Pökelfleisch. Ein Putzeimer mit Bleichmittel. Von draußen fiel Licht durch das Metallgitter und zeichnete ein Schachbrettmuster auf den riesigen Gefrierschrank, in dem die blutigen, zungenlosen Lämmerköpfe fein säuberlich aufgereiht lagen.
    Jamal hatte noch nie telefoniert, weil er nie Grund dazu gehabt hatte, und war nervös, als er den schweren schwarzen Hörer abnahm und den Zettel aus der Tasche zog. Er hob den Hörer ans Ohr, wie er es bei anderen gesehen hatte, und tippte die Zahlen ein.
    Er hörte einen Ton und dann noch einen, ein langes, unmelodisches Tuten. Dann meldete sich eine Stimme, viel näher, als er erwartet hatte. Nicht Mr Harry, sondern eine Frau.
    »Hallo?«
    Jamal zögerte. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sich jemand anders melden würde, und wusste nicht, was er jetzt sagen sollte.
    »Hallo?«, wiederholte die Frau.
    »Ich möchte bitte mit Mr Harry sprechen«, platzte er heraus.
    »Sie haben sich –«, setzte die Frau an, doch Jamal ließ sie nicht ausreden.
    »Mr Harry«, beharrte er und warf einen Blick auf den Fetzen Papier in seiner Hand. »Sind Sie Es Kepler?«
    Am anderen Ende herrschte Schweigen. Er fürchtete schon, die Frau hätte aufgelegt, doch dann hörte er sie lachen.
    »Natürlich, Mr Harry«, sagte sie mit Betonung auf dem »Mister«.
    »Bitte.« Jamal holte tief Luft und konzentrierte sich auf das, was er sagen wollte. Die Frau musste ihn unbedingt verstehen. Das Telefon jagte ihm mehr Angst ein, als er gedacht hatte, und sein Englisch, das eigentlich ganz gut war, drohte ihn im Stich zu lassen. »Bitte«, wiederholte er, »es ist wichtig. Wirkliche Not hier.«
    »Ach ja?«, fragte sie in bitterem Ton. »Falls Sie Harry finden, richten Sie ihm aus, dass es hier auch wirkliche Not gibt.«

 
Virginia
    Nicht jeder hat es so leicht wie du. Es war das Letzte, was Kat zu ihrem Bruder gesagt hatte, jedenfalls das Letzte, das von Bedeutung gewesen war.
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