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Verschärftes Verhör

Verschärftes Verhör

Titel: Verschärftes Verhör
Autoren: Jenny Siler
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adhãn sprechen.«
    Das Baby schrie in den Armen der Schwester, und Manar konnte seine Verzweiflung mit ihrem ganzen Körper spüren. »Er gehört mir!«, brüllte sie.
    Die Frau trat vor und legte ihr das Kind auf die Brust. Es war nackt und blutig und hatte die Augen weit aufgerissen, sie waren dunkel wie nasse Steine.
    Manar legte die Lippen an sein rechtes Ohr und roch an ihm, roch ihrer beider Gerüche. Blut wie Erde, wie der Lehm, aus dem Gott sie alle geformt hatte. Hinter seinem Ohr war ein kleiner roter Fleck, der einzige Makel auf der noch dunkelroten Haut. Eine Unvollkommenheit, dachte Manar, wie sie bei Töpfen im Brennofen auftrat, ein Zeugnis dessen, was er in ihr erlitten hatte.
    »Allah ist groß«, flüsterte sie.
    »Ich bezeuge, dass es keinen Gott gibt außer Allah.
    Ich bezeuge, dass Muhammad der Gesandte Allahs ist.
    Kommt zum Gebet.
    Kommt zur Erlösung.«
    Dann wollte sie das zweite Gebet sprechen, doch die Schwester hatte ihr das Kind schon weggenommen.

1
Madrid
    »Also dann, Jamal«, sagte der Amerikaner und stützte die Hände auf die Knie, wie es seine Gewohnheit war. »Wie läuft es denn so?«
    Er war ein hochgewachsener Mann, seine Arme und Beine wirkten zu lang für den Oberkörper. Der Kopf war eckig, das blonde Haar kurzgeschoren, er hatte blasse Wimpern im blassen Gesicht. Justin, so solle Jamal ihn nennen, darauf hatte er mehrfach bestanden. Der Gedanke machte den Jungen furchtbar verlegen.
    Es war Abend, draußen dunkelte es, und Jamal konnte durch das offene Fenster in die Wohnung gegenüber schauen, wo die Frau in der rosa abaya das Abendessen zubereitete. Das tat sie während seiner Treffen mit dem Amerikaner fast immer. Harira, dachte Jamal, als ihm der üppige Duft von Knoblauch und Gewürzen in die Nase stieg. Vergangene Woche war es Lamm gewesen. Und in der Woche davor das angenehme Aroma von Zucker und Zimt. Die Verheißung, sie zu sehen, war das einzig Gute an den wöchentlichen Treffen, vor denen er sich fürchtete.
    »Es werden ein paar sehr wichtige Männer kommen, um dich zu sehen«, verkündete der Amerikaner, ohne eine Antwort auf seine vorherige Frage abzuwarten, an der ihm anscheinend nicht gelegen war. »Sie werden dir Fragen über Bagheri stellen.«
    Ängstlich ging Jamal in Gedanken noch einmal durch, was er gesagt hatte. Die Sache war ihm entglitten, und nun war er ziemlich ratlos. Irgendwo im Haus weinte ein Baby. Irgendein Baby weinte immer, wenngleich er nicht wusste, ob es stets dasselbe war.
    »Aus Washington?« Er versuchte, seine Panik zu unterdrücken.
    Der Amerikaner nickte ermutigend und unfreundlich zugleich. »Sag ihnen einfach, was du weißt, was du mir gesagt hast. Dann wird alles gut.«
    Jamal dachte kurz nach. »Wird Mr Harry auch dabei sein?«
    Der Mann seufzte genervt. »Darüber haben wir doch schon gesprochen, Jamal. Harry – Mr Comfort, meine ich – arbeitet nicht mehr für uns. Darum bin ich jetzt da.« Er knipste ein Lächeln an, beugte sich vor und reichte Jamal ein Stück Papier, auf das mit schwarzer Tinte eine Adresse gekritzelt war. »Es gibt ein sicheres Haus in Malasaña. Wir treffen uns dort morgen um Mitternacht.«
    Jamal nahm das Papier. »Und wenn ich ihnen von Bagheri erzählt habe, kann ich gehen?«
    »Natürlich.« Der Amerikaner zuckte die Achseln, stemmte die Hände auf die Knie und erhob seinen langen Körper vom Stuhl. »Du kannst auch sofort gehen, wenn du möchtest«, sagte er, da er den Sinn der Frage nicht verstanden hatte.
    »Nein.« Jamal schaute zu ihm hoch. »Kann ich nach Amerika gehen?«
    Der Mann hielt inne, musste sich fassen. Damit hatte er offensichtlich nicht gerechnet, und sein Mund wirkte plötzlich hart im Dämmerlicht. »Ja«, sagte er schließlich. »Ja, natürlich. Darüber reden wir später.«
    Jamal nickte, weil es ihm richtig erschien, wohl wissend, dass der Amerikaner log. Diesen Blick hatte er schon oft gesehen. Kein Mitleid, sondern Schuldbewusstsein. Scham über das, was geschehen war und geschehen würde.
    »Vertrau mir«, sagte der Mann. Er zog sein Portemonnaie aus der Gesäßtasche, holte einen Hunderteuroschein hervor – viel mehr als üblich – und gab ihn Jamal. Dann ging er zur Tür.
    Jamal hörte die Schritte des Amerikaners auf der Treppe, das Knirschen der Ledersohlen auf dem sandigen Beton. Dann schlug tief unten die Haustür zu.
    Gib mir fünf Minuten, pflegte Mr Harry zu sagen, wenn er und Jamal ihre Partie Gin Rommé gespielt hatten. Er redete zwanglos, als wäre alles ein
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