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Verschärftes Verhör

Verschärftes Verhör

Titel: Verschärftes Verhör
Autoren: Jenny Siler
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zu plaudern.
    Kat wählte mit zitternden Fingern Colins Nummer. In Schottland musste es fünf Stunden später sein, kurz nach Mittag. Auf dieser Seite der Welt war sie kurz davor, zu spät zum Dienst zu kommen.
    »Nimm ab«, flüsterte sie ungeduldig.
    Jenseits des Atlantiks klingelte das Telefon. Niemand meldete sich.
Madrid
    Die Sache wird unerfreulich, hatte Harry gesagt. Es war am 13. März gewesen, bei ihrem ersten konfusen Treffen nach dem Bombenanschlag auf den Bahnhof Atocha. Mittlerweile wussten alle, dass nicht die ETA, sondern eine marokkanische Gruppe die Anschläge verübt hatte, und in den Cafés und Moscheen von Lavapiés wimmelte es von Zivilgardisten. Das hatte Harry allerdings nicht gemeint.
    Sie schicken mich definitiv nach Hause, Jamal. Verstehst du, was das bedeutet? Kein Gin Rommé mehr. Keine rosa Abaya. Harry hatte aus dem Fenster auf die Wohnung gegenüber gedeutet, und Jamal war rot geworden.
    Jamal wusste immer, wann Harry getrunken hatte, und an jenem Nachmittag war er betrunkener als sonst. Jamal hatte sich damit getröstet und gehofft, dass Harrys düstere Prophezeiung seiner üblichen dramatischen Art entsprang. Zwei Wochen später jedoch fand er Justin in der Wohnung in der Calle Tres Peces vor, und Harry war verschwunden.
    Jamals Knöchel pochte heftig, als er durch die Calle de la Magdalena ins Häuserlabyrinth von Lavapiés hinkte. Er hatte eine Bruchlandung auf dem Dach hingelegt und sich dabei den Fuß verrenkt. Der Schmerz wurde mit jedem Schritt schlimmer. Mindestens eine schwere Verstauchung, vielleicht sogar Schlimmeres, doch darum konnte er sich jetzt nicht kümmern.
    Er bog in die Calle del Avenida Maria, blieb stehen und betrachtete den vor ihm liegenden Häuserblock. Die Metzgerei war dunkel, das metallene Sicherheitsgitter vor die Fenster gezogen und abgeschlossen. In dem Hauseingang, der zu Jamals Zimmer führte, bewegte sich etwas. Das Herz des Jungen schlug bis zum Hals. Dann trat die Gestalt auf den Gehweg, und er erkannte erleichtert seinen Nachbarn, einen der Somalier, die in den überfüllten Zimmern auf seiner Etage wohnten.
    Jamal schaute zu, wie der Somalier sich abwandte und ruhelos über die Straße schlenderte, wieder zur Haustür zurückkehrte und dabei über die Schulter blickte. Dass er die beiden Männer aus dem Hotel abgehängt hatte, tröstete den Jungen wenig. Die Amerikaner kannten sein Zimmer über der Metzgerei. Falls sie noch nicht da gewesen waren, würden sie bald kommen. Jamal musste schnell handeln.
    Er betrat den dunklen Flur und blieb stehen, um seinen schmerzenden Fuß zu entlasten. Er horchte auf verdächtige Geräusche. Jamal hatte fast sein ganzes Leben in Gefängnissen, Waisenhäusern und Flüchtlingslagern verbracht und kannte die Gewohnheiten der Männer, die in kollektiver Einsamkeit lebten. Über ihm im Dunkeln ertönte plötzlich ein schriller Lustschrei – jemand träumte von seiner Frau oder befingerte schläfrig einen Körper, der sich eng an seinen drückte. All das gehörte zur langen Reihe der Demütigungen, zu der Scham, die alle empfanden und doch nie erwähnten. Hinter der Tür der Somalier erklang leise afrikanische Musik, dieselbe blecherne Kassette, die Jamal schon hundertmal gehört hatte.
    Die Luft schien rein. Er hinkte nach oben. Das billige Vorhängeschloss, das er an der Tür angebracht hatte, war unversehrt. Dennoch zitterten Jamals Hände, als er den Schlüssel, den er um den Hals trug, hervorholte und die Tür aufschloss.
    Er ließ sie hinter sich zufallen und tastete sich an den wenigen schlichten Möbeln vorbei: Bett, Tisch und Stuhl, eine einzelne elektrische Kochplatte, auf der er seit zwei Jahren seine Mahlzeiten zubereitete. Alles war schäbig und abgenutzt, und doch war er glücklich damit, hatte am ersten Abend sogar vor Freude geweint, als er begriff, dass es ihm allein gehörte. Nachdem er so lange ohne jede Privatsphäre gelebt hatte, wollte er es um keinen Preis missen. Dennoch war er nicht sicher in diesem Zimmer und würde es nie mehr sein.
    Jamal kniete sich vorsichtig hin, schob das Bett beiseite, fuhr mit den Fingern an der Sockelleiste entlang, bis er die lose Stelle fand, und löste die Leiste. Er hatte das improvisierte Versteck einige Monate nach seinem Einzug entdeckt. Den Inhalt hatte wohl ein früherer Bewohner zurückgelassen, verblichene Fotos von einer Frau und drei Kindern und ein Brief in einer Sprache, die Jamal nicht verstand. Das Blatt war so oft gefaltet worden, dass es brüchig
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