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Giebelschatten

Titel: Giebelschatten
Autoren: Kai Meyer
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Einleitung
     
    Jeder weiß, daß Schriftsteller alt sind und buschige weiße Bärte tragen. In Gedanken sind sie immer anderswo, ihre Stirn ist zerfurcht, das Haar schlohweiß und zerzaust. Ein wenig wie Karl Marx vor dem Frühstück.
    Natürlich gibt es Ausnahmen – zwei, um genau zu sein. Die eine sieht aus wie Stephen King (wahrscheinlich der einzige Autor, dessen Bild der halben Weltbevölkerung bekannt ist), die andere, weil weiblich, wie Barbara Cartland. Sie wissen nicht, wie Barbara Cartland aussieht? Besorgen Sie sich umgehend ein beliebiges Klatschmagazin vom Kiosk; die Chancen stehen gut, daß Sie darin ein Bild von ihr entdecken.
    Seit nunmehr drei Jahren bin ich freiberuflicher Schriftsteller. Trocken ausgedrückt bedeutet das, ich verdiene mein Geld allein mit dem Schreiben von Büchern. Wie Stephen King sehe ich nicht aus, und – Gott sei Dank – auch nicht wie die Cartland. Was mich allerdings wirklich ein wenig enttäuscht, ist der Umstand, daß mir bislang weder weißes wallendes Haar noch der entsprechende Bart gewachsen sind. Genaugenommen kann ich also gar kein echter Schriftsteller sein, nicht wahr?
    Was es mit all dem auf sich hat, möchten Sie wissen?
    Der Zeitpunkt, an dem ich zum erstenmal einem leibhaftigen Schriftsteller begegnet bin, liegt ziemlich genau die Hälfte meines bisherigen Lebens zurück – damals war ich vierzehn. In meiner Vorstellung waren Romanautoren weise, nahezu allwissende Gestalten. Menschen mit hohem Intellekt und umfassender Lebenserfahrung. Keine Halbgötter, aber irgendwie doch ziemlich nah daran.
    Freilich wurde ich enttäuscht. Kein weißes Haar, kein weißer Bart. Sehr nett, aber ganz bestimmt nicht weise. Die Romane des betreffenden Autors gefielen mir fortan nur noch halb so gut.
    Fünf Jahre später, ich war neunzehn, schrieb ich meinen ersten eigenen Roman. Ein Heft für die viel gescholtene Reihe Mitternachts-Roman des Bastei-Verlages. Nun war ich also ein Autor. Aber fühlte ich mich auch so? Nicht im geringsten. Ich kam mir vor wie jemand, der andere nachahmt, nicht inhaltlich, sondern was die körperliche Tätigkeit angeht: Ich hämmerte auf die Computer-Tasten, ich erzählte eine Geschichte, und das, wie ich zumindest damals fand, gar nicht mal schlecht – aber ein echter Autor? Nein, das mußte doch etwas anderes sein. Ich saß da, schrieb Seite um Seite und fühlte mich weder weise noch irgendwie erhaben. Echte Schriftsteller, so dachte ich, steckten beim Schreiben tief in ihren Geschichten, umschwirrt von Inspirationen und genialen Ideen, im ständigen Zwiegespräch mit ihren fiktiven Charakteren. Und ich? Ich saß da, hackte auf der Tastatur herum, trank dabei Cola und aß Schokolade oder Pizza. Vom Mangel an weißem Bart und Haupthaar einmal ganz zu schweigen.
    Heute, neun Jahre darauf, habe ich sechzehn Bücher geschrieben, Hardcover und Taschenbücher. Doch so ganz sind die Zweifel von damals nicht geschwunden. Kein Bart und immer weniger Haar, ich esse und trinke immer noch beim Schreiben, stehe auf um Kaffee oder Tee zu kochen, CDs zu wechseln oder weiß-der-Teufel-was zu tun. Ich kann noch immer nicht ganz glauben, daß ich jetzt eine von diesen diffusen Gestalten bin, wie sie einst in meiner Vorstellung existierten. Und jedesmal, bei Lesungen oder anderen Veranstaltung, schaue ich in die Gesichter der Zuhörer, vor allem in die der jungen, und ich weiß, daß dahinter gerade eine Seifenblase platzt: Kein weißes Haar, kein weißer Bart und ganz gewiß nicht weise.
     
    Die beiden Geschichten dieses Bandes entstanden zu eben jener Zeit, als Autoren für mich noch ferne, großartige Wesenheiten waren. Ich war damals neunzehn oder zwanzig, mein erster Heftroman (von insgesamt sieben) war bereits erschienen, und ich war mit dem gedruckten Endergebnis mehr als unzufrieden. Die Lektorin hatte nicht nur nahezu jeden Satz geändert oder gekürzt, sondern auch das Finale kurzerhand verworfen und eigenhändig neu geschrieben – mit schmalzigem Happy End. Mein Manuskript, auf dem als Titel WALPURGIS gestanden hatte, hieß nun im Druck WIE EINST IN DER WALPURGISNACHT.
    Während ich an meinem zweiten und dritten Mitternachts-Roman schrieb – den vorliegenden Erzählungen –, schwante mir bereits, daß es diesen beiden ebenso wie dem ersten ergehen würde. Ein paar Monate später durfte ich mir auf die Schulter klopfen – ich hatte recht behalten. Meine Romane trugen plötzlich die Titel ENDLOS IST DIE NACHT und DEN TEUFEL ZUM FREUND, und wenig
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