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Giebelschatten

Titel: Giebelschatten
Autoren: Kai Meyer
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verschmierten Lippen und einem verzerrten Lächeln, Patrick. Er war nackt, sein drahtiger Körper schimmerte im Licht der Kerzen in einem unnatürlichen Bronzeton.
    »Willkommen, willkommen!« rief er ihnen entgegen wie ein wahnsinniger Jahrmarktschreier.
    Pascin und seine beiden Männer klammerten sich fester an die Griffe ihrer Waffen. Der Inspektor hatte das Haus umstellen lassen, Curtis wartete draußen auf sie. Valerie hatte Pascin überzeugen können, sie mit hinein zu nehmen – wenn es überhaupt jemanden gab, mit dem Patrick sprechen würde, dann mit ihr.
    »Es tut mir leid, Ihnen nur eine Solonummer bieten zu können.« Patricks Worte klangen höhnisch, aber seine Stimme verlieh ihnen einen Ton, der beinahe aufrichtig klang.
    »Er hat den Verstand verloren«, flüsterte Pascin.
    Valerie atmete tief ein. Sie spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen.
    »Der Inspektor hat recht«, rief Patrick quer durch den Saal. »Ja, bestimmt. Ich bin verrückt. Das muß die Lösung sein.« Er lachte bitter. »Wenn jemand Huren tötet, dann ist er verrückt. Das ist alles so einfach, Pascin, nicht wahr?«
    Langsam tastete sich der Trupp durch den Seitengang in Richtung Bühne. Patrick folgte ihnen aufmerksam mit seinen Blicken.
    »Sie waren Huren, Pascin. Verstehen Sie das? Mütter, die ihre Kinder nachts auf die Straße werfen.«
    »Nur eines von Ihren Opfern hatte Kinder«, antwortete Pascin, um ihn zu beschäftigen. Noch zwanzig Schritte, neunzehn…
    »Woher sollte ich das wissen?« Patrick lachte gequält auf. »Meine Mutter war eine wie sie. Wußten Sie das? Haben Sie in der kurzen Zeit schon so viel über mich herausgefunden, Inspektor?« Er begann gleichzeitig zu lachen und zu weinen.
    Fünfzehn, vierzehn, dreizehn Schritte…
    »Ich habe Freunde gehabt, die nachts auf den Straßen starben, Jungen, Mädchen, getötet vom Fieber und der Kälte. Und ihren Müttern war es gleichgültig!« Er heulte auf. »Dreckige Huren!« kreischte er haßerfüllt. Elf, zehn…
    »Aber Irina war keine von ihnen, Patrick«, sagte Valerie.
    Für einen Moment schien er irritiert. »Irina?« entfuhr es ihm verblüfft. »Aber das war ich nicht!«
    Noch sieben Schritte, sechs…
    Pascin machte sich bereit, vorwärts zu stürmen. Aus dem Augenwinkel beobachtete Valerie, wie er und seine beiden Männer sich spannten, ihre Körper ganz leicht nach vorne beugten – und schlagartig zu Eissäulen erstarrten.
    Im gleichen Augenblick begriff sie, daß Patrick all das von Anfang an geplant hatte. Aus den Schatten zog er etwas Glänzendes, Scharfes hervor, etwas mit einer schmalen Klinge aus Stahl, silbrig glitzernd im Schein der Kerzen.
    Er heulte etwas, das Name oder Fluch sein mochte, dann zog er sich die Schneide quer über den Hals. Ein Schnitt klaffte auf, tief und naß, sprudelnd, rot, entsetzlich.
    Valerie wandte sich ab und schaute starr zu den beiden Engeln empor.
     
    Sie standen vor der verschlossenen Tür von Aarons Zelle und schwiegen. Valerie hatte durch die Sichtluke einen Blick hineingeworfen.
    Alles was sie gesehen hatte, war ein Körper, der im Dunkeln auf einer Pritsche lag, schlafend, mit Decken darüber.
    Nach einer Weile brach Curtis das Schweigen.
    »Erschreckt es dich, einen Mörder mit meinem Gesicht zu sehen?«
    »Ihr seid Zwillinge«, stellte Valerie gedankenverloren fest.
    Er nickte und ging langsam mit ihr den Gang hinunter. Rechts und links glitten die grauen Zellentüren vorüber wie Leichenwagen auf einem Boulevard.
    »Nicht sehr«, beantwortete sie schließlich seine Frage.
    »Er ist ein Mörder«, wiederholte Curtis.
    »Irina glaubte nicht daran.«
    Er schüttelte traurig den Kopf. »Hättest du geglaubt, daß dieser Junge, Patrick, vier Frauen ermorden könnte?«
    »Drei«, verbesserte sie.
    »Die Polizei sagt vier, Irina eingeschlossen.« Etwas in seinem Gesicht zuckte, als er ihren Namen erwähnte.
    Die Wände mit den grauen Türen schienen kein Ende zu nehmen.
    »Patrick sagte, er sei es nicht gewesen. Nicht bei ihr.« Ihre Schritte hallten durch den endlosen Korridor. Ein Wärter schob einen leeren Wagen an ihnen vorbei ohne sie anzusehen.
    »Glaubst du einem Verrückten?« fragte Curtis.
    Er hatte gewiß keine Antwort erwartet, und sie gab ihm keine. Statt dessen hob sie den Kopf. Ihre Stimme klang müde. »Irina ahnte etwas.«
    »Ahnte was?«
    »Sie sagte, es hätte damals Leute gegeben, die daran zweifelten, daß Aaron der Ripper war. Du selbst hast gemeint, daß er nicht wirklich verrückt
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