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Giebelschatten

Titel: Giebelschatten
Autoren: Kai Meyer
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geschehen. Ihrer Ansicht nach fielen die Angelegenheiten des niederen Personals allein in Flaggs Zuständigkeitsbereich.
    Gwen hatte nie begriffen, wie ihre Mutter eine solche hausinterne Politik mit ihrem sozialen Engagement vereinte, und sie hegte schon lange die Befürchtung, daß letzteres einzig und allein ein zynischer Auswuchs ihres Adelsstandes war, eine Aktivität, um auf Dinnerpartys und Empfängen den übrigen Lords und Ladies in Sachen Wohltätigkeit nicht nachstehen zu müssen.
    Andererseits hatte es Martin nach seiner Aufnahme ins Haus nie an irgend etwas gefehlt, und ihre Eltern behandelten ihn ebenso wie ihre drei Töchter – was freilich wenig zu bedeuten hatte, denn die Kinder wurden weitgehend ignoriert. Genaugenommen war Gwen in Ines’ Küche aufgewachsen, und Nicole und Miranda erging es kaum besser.
    Ihr Vater räusperte sich, tippte leicht mit der Messerspitze gegen sein Weinglas und erhob sich schwerfällig vom Stuhl.
    »Laßt uns die Gläser auf unser neues Familienmitglied erheben«, verkündete er stoßweise in der ihm eigenen keuchenden Redeweise. Er stand leicht nach vorne gebeugt, und seine freie Hand schwebte wenige Zentimeter über der Tischkante, als stütze er sich auf eine imaginäre Krücke.
    Gwens Mutter lachte verzückt, stand von ihrem Platz am anderen Ende der Tafel auf und erhob ebenfalls ihr Glas. Flagg sprang mit der fragwürdigen Eleganz einer Vogelscheuche herbei und füllte es bis unter den Rand. Kater Herodes rollte sich enger um ihren Hals. Seine Augen waren weit geöffnet und beobachteten das Geschehen am Tisch mit listiger Neugier.
    »Schtt!« zischte die Lady auffordernd und winkte den Mädchen und Martin ungeduldig zu. »Steht auf, oder wollt ihr euren neuen Bruder beleidigen?«
    Neuer Bruder! Gwen mochte Christopher nicht, und jetzt, als sie sah, wie er stramm und mit artig vorgeschobener Brust auf seinem Platz saß, als sei er der Herr des Hauses, da vertiefte sich ihre Abneigung. Wären da nur nicht diese Augen gewesen – wunderschön und angsteinflößend zugleich.
    Aus dem Augenwinkel sah sie, wie auch Martins Gesicht sich verzog, aber was immer ihm auf der Zunge gelegen hatte, er schluckte es herunter. Insgeheim lächelte sie.
    Der Trinkspruch kam und verklang, und als die Familie schließlich Vorspeise, Hauptgericht und Dessert hinter sich gebracht hatte, hielt Gwen den Zeitpunkt für gekommen, das Gespräch auf den Ostflügel zu lenken.
    »Ihr habt uns nie gesagt, warum die Tür zum Ostflügel immer verschlossen bleibt«, begann sie.
    Ihr Vater sah überrascht auf. Sein Gesicht wurde feuerrot. Nicht etwa aus Wut, sondern nur, weil das seine übliche Reaktion war, wenn er mit etwas Unerwartetem konfrontiert wurde.
    »Falsch, mein Kind«, meinte er, »wir haben es euch gesagt.«
    Gwen schüttelte den Kopf. Sie hatte sich vorgenommen, dieses eine Mal beharrlich zu bleiben. »Damit niemand hineinkommt, hast du gesagt. Sonst nichts.«
    Ihre Mutter schaltete sich ein, aber ihre Stimme klang gelangweilt, und als sie sprach, sah sie nicht Gwen an, sondern verrenkte den Kopf, um einen Blick auf Herodes werfen zu können. »Reicht dir das nicht, Gwenny?«
    Gwen überhörte den verhaßten Kosenamen und wandte sich an ihren Vater. »Es muß doch einen Grund geben, warum niemand den Flügel betreten soll.«
    Neben ihr horchte Nicole auf, mit acht Jahren ihre jüngste Schwester. »Ein Geheimnis!« rief die Kleine erfreut.
    Ihr Vater schüttelte den Kopf.
    »Kein Geheimnis«, widersprach er. »Nur eine alte Familienangelegenheit, eine Tradition, wenn du so willst.« Er blickte von einem zum anderen, dann griff er nach seinem Weinglas, trank einen Schluck und räusperte sich erneut. »Es hat dort vor vielen Jahren einen traurigen Vorfall gegeben, und seitdem bleibt die Tür verschlossen. Ist das genug?«
    Die elfjährige Miranda schüttelte hastig den Kopf. »Erzähl uns mehr davon«, verlangte sie.
    Der Lord öffnete den Mund, als seine Frau plötzlich ihren Stuhl zurückschob und sich erhob. »Ihr verzeiht doch, wenn ich mich zurückziehe?« fragte sie ohne Interesse an einer Antwort. »Herodes muß jetzt Schlafengehen.«
    Mit diesen Worten wandte sie sich um und glitt eilig aus dem Saal. Der Kater schnurrte zufrieden.
    Als wenn das Mistvieh irgendwann etwas anderes täte als schlafen, dachte Gwen boshaft.
    Ihr Vater hustete kränklich in die Stille dieses Abgangs, dann fuhr er umständlich fort. »Ein Cousin meines Vaters, mein Großcousin also – sein Name war Ralph
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