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Giebelschatten

Titel: Giebelschatten
Autoren: Kai Meyer
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steuerloser fliegender Teppich hierher getragen, und als sie sich nun umsah, da erkannte sie mit einer Klarheit, wie es sie nur im Schlaf gibt, daß sie noch immer nicht völlig wach sein konnte, denn sonst hätte sie der endlose Korridor mit seinen hohen, verschlossenen Türen zweifellos in Angst versetzt. So aber verspürte sie nichts als lodernde Neugier, wollte erfahren, was hinter den gewaltigen Türen und am Ende des dunklen Flurs auf sie wartete.
    Wie ein bleicher Spuk glitt sie in ihrem weißen Nachtgewand den Gang entlang, passierte geschlossene und offene Türen, hinter denen das Dunkel nistete wie schlafende Fledermäuse. Als sie das Ende des Korridors erreichte, fand sie zu ihrer Linken eine schmale Abzweigung, die wiederum nach einem Dutzend Schritte als Sackgasse vor einem hohen Fenster endete. Dahinter lag, im Zentrum des Flügels, ein alter, tiefer Hof.
    Im Halbschlaf drückte Gwen ihr Gesicht fest gegen die Scheibe, und das eiskalte Glas prickelte auf ihrer Haut wie eine Winterbrise. Die Nacht schien sich beinahe greifbar von außen gegen das Fenster zu pressen, und aus irgendeinem Grund schauderte Gwen bei dem Gedanken, daß nur eine Scheibe sie von der Dunkelheit der Außenwelt trennte.
    Sie sah hinab in den schmalen Steinhof, ein vergessenes Relikt aus einer Zeit, als auch dieser Teil des Hauses voll von Leben, voller Menschen war. Jetzt lag er da wie ein finsteres Maul, fünf Stockwerke tief, mit glatten, schwarzen Wänden, ein schweigender Kerker für jeden, der den Mut haben mochte, auf seinen schattigen Grund hinabzusteigen. Etwas war mit diesem Hof, den seit Jahrzehnten keine Menschenseele mehr betreten hatte, als besäße er ein düsteres Eigenleben, als träume es von den vergangenen Zeiten des Glanzes und der Pracht.
    In diesem Augenblick erwachte sie wirklich. Das letzte Stück Schlaf löste sich aus ihren Gedanken, und gleichzeitig rückte die allgegenwärtige Dunkelheit von allen Seiten auf sie zu.
    Gwen stöhnte voller Entsetzen auf, warf sich herum und rannte los, fort von dem Fenster, fort von dem uralten Hof dahinter, den Gang entlang, um die Ecke und auf den großen Korridor. Sie passierte uralte Türen und Räume, lief so schnell sie konnte durch die Tür ins Treppenhaus, warf den schweren Flügel hinter sich ins Schloß und stürzte nach oben in ihr Zimmer.
    Zurück in die Sicherheit.
    Zurück zu den Träumen.
     
    Noch jemand schlief schlecht in dieser Nacht, drei Korridore und ein Stockwerk von Gwens Schlafzimmer entfernt.
    Es muß der Vollmond sein, dachte Martin, nur um sich gleich darauf zu erinnern, daß es erst zwei Wochen her war, seit der Mond weiß und rund am Himmel gehangen hatte. Demnach konnte heute kaum mehr als eine schmale Sichel das nächtliche London bescheinen, kein Grund also, stundenlang wachzuliegen und sich den Kopf über andere Begründungen zu zermartern.
    Martin war aufgeregt. Morgen war der Tag, an dem Christopher ins Haus Muybridge kommen sollte, ein zweiter Pflegesohn wie er selbst. Ein Konkurrent um Gwens Gunst?
    Lady Muybridge hatte es sich in den Kopf gesetzt, begabte Jungen aus Londons East End, dem Armenpfuhl der Stadt, unter ihre Fittiche zu nehmen und sie, wie sie es nannte, »mit Rat und Tat auf den rechten Weg zu führen«. Zumindest hatte sie Martin gegenüber genau diese Worte benutzt, damals, vor fünf Jahren, als sie ihn an einem eiskalten Oktobermorgen mit ihrer Kutsche aus dem Waisenhaus an der Commercial Road geholt und in ihr Haus in der City gebracht hatte.
    Martin konnte sich noch wie heute an den Tag erinnern – damals war er gerade zwölf gewesen –, als Father Cullen ihn nach der Essensausgabe beiseite genommen und über sein weiteres Schicksal aufklärt hatte.
    »Martin«, hatte der Geistliche mit bedeutungsschwere Stimme begonnen, »vor einigen Wochen kam eine Lady zu mir, mit der Bitte, einen Jungen zu empfehlen, der klug und kräftig ist. Jemand, der es zu etwas bringen kann und vor allem auch will.«
    Zu Anfang hatte er überhaupt nicht verstanden, worauf Cullen hinauswollte. Erst, als der alte Mann weiter sprach, begann er zu begreifen:
    »Lady Muybridge und ihr Mann sind sehr einflußreich. Sie gehören zum Kreis der Vertrauten des Königshauses und tun allerlei wohltätige Dinge. Nur ihnen ist es zu verdanken, daß dieses Waisenhaus existiert.« Father Cullen machte eine kurze Pause, holte tief Luft und lächelte. »Aber wie auch immer – nun möchte die Lady, daß Kinder ohne Eltern, arme Kinder, direkt an ihrem
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