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Giebelschatten

Titel: Giebelschatten
Autoren: Kai Meyer
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hereingekommen war. Sie wollte zu Ines, endlich wieder mit einem Menschen sprechen in diesem Haus lebloser Puppen.
    Plötzlich mußte sie wieder an die vergangene Nacht denken, an den Ostflügel und an den alten Hof. Während sie durch den Korridor zur Küche eilte, erinnerte sie sich, daß die Tür im Treppenhaus, der einzige Zugang zum östlichen Teil des Hauses, unverschlossen gewesen sein mußte. Wie sonst hätte sie dort hineinkommen sollen? War das Schloß doch sonst Tag und Nacht zugesperrt und verriegelt:
    Aber wenn die Tür nicht verschlossen gewesen war, wer hatte sie dann geöffnet? Und wo war derjenige gewesen, während sie im Halbschlaf durch die verlassenen Gänge irrte? Die Konsequenz dieses Gedankens traf sie wie ein Schlag. Plötzlich blieb sie stehen, ein Schauer kroch über ihren Rücken, und mit einemmal waren Christopher und Martin, ihre Eltern und Flagg vergessen.
    Großer Gott, dachte sie, ich war nicht allein im Ostflügel! Da war noch jemand gewesen, jemand, der sich aus irgendeinem Grund in den Schatten vor ihr versteckt gehalten hatte.
     
    Die dicke Ines war eigentlich nicht wirklich dick. Aber Gwen und ihren Schwestern, ja auch Martin, schien es, als müsse eine Köchin einfach kugelrund sein wie ein Ball. Und obwohl die Frau allenfalls während der letzten Jahre ein wenig Speck angesetzt hatte, war sie für Gwen und die anderen, solange sie denken konnten, immer ›die dicke Ines‹ gewesen.
    »Er ist da«, sagte Gwen, als sie die Küche betrat.
    Normalerweise war der Raum hell und geräumig, aber Ines besaß das Talent, jeden freien Fleck mit Stapeln von Kochtöpfen, Lebensmitteln und sonstigem Krimskrams zu füllen – und dabei auf beneidenswerte Weise die Übersicht zu behalten.
    Die Köchin blickte hinter einem großen Topf auf und lächelte Gwen durch eine dichte Wolke wabernden Wasserdampfes entgegen. »Dieser Christian?« fragte sie.
    »Christopher«, verbesserte Gwen und nickte.
    Ines trat hinter der Anrichte hervor und drückte ihr eine geschälte Karotte in die Hand. »Hier, das hält gesund. Nach all den Jahren also wieder ein Kind im Haus…«
    Gwen blickte lustlos auf das Gemüse in ihren Fingern und biß dann ein kleines Stück ab. Möhren gaben ihr immer das Gefühl, stundenlang auf dem gleichen Stück herumzukauen.
    Sie verzog das Gesicht, bemerkte, daß Ines es mit einem breiten Grinsen quittierte, und schüttelte dann den Kopf. »Er ist in meinem und Martins Alter. Du mußt also weiter mit Miranda und Nicole vorliebnehmen, wenn du jemanden verhätscheln willst.«
    Ines Grinsen wurde noch breiter. Eine Strähne ihres grauen Haars löste sich aus dem engen Haarnetz auf ihrem Kopf, fiel ihr in die faltige Stirn und wurde mit einer hastigen Handbewegung zurück an seinen Platz gestopft. »Ich verhätschle dich doch auch, oder?«
    »Aber ich bin kein Kind mehr«, erwiderte Gwen. Sie brachte es einfach nicht über sich, die Karottenstücke in ihrem Mund herunterzuschlucken.
    »Natürlich nicht«, beeilte sich Ines zu versichern, aber der Klang ihrer Worte verhieß das genaue Gegenteil.
    Gwen verzichtete auf eine weitere Diskussion des Themas. Der Ostflügel schwirrte immer noch wie ein unheilvolles Omen in ihrem Kopf umher, als hätten sich seine Schatten auch in ihrem Geist eingenistet. Nicht einmal Ines, ansonsten immer gut für eine Ablenkung oder befreiende Aussprache, konnte ihre Stimmung im Moment heben. Sie beschloß, zurück auf ihr Zimmer zu gehen, und dort auf das Abendessen zu warten.
    Sie verabschiedete sich, legte die Karotte beiseite und wandte sich zur Tür.
    Ines sah hinter ihr her. »Du hast ja nicht mal gefragt, was es zum Dinner gibt…«
    Aber Gwen war bereits durch die Tür und auf dem Korridor, blind und taub im Sog düsterer Ahnungen.
     
    So phantastisch die Kreationen von Ines zuweilen waren, die alltägliche Zeremonie des Abendessens war nichts, woran Gwen oder ihre Geschwister jemals Gefallen finden würden. Allein die Anwesenheit Flaggs, der hochaufgerichtet und starr wie ein Besenstiel in einer Ecke des Saales stand und nur ab und an vorwärts eilte, um halbleere Gläser aufzufüllen, verdarb den Geschmack der besten Speisen.
    Unscheinbare Dienstboten eilten flink zwischen der Küche und der gewaltigen Eichentafel hin und her, brachten gefüllte Schüsseln und entfernten die leeren; Gesichter, die fast wöchentlich wechselten, wenn der Butler ihrer Dienste überdrüssig war und sie durch andere ersetzte. Gwens Eltern ließen es widerspruchslos
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