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Verschärftes Verhör

Verschärftes Verhör

Titel: Verschärftes Verhör
Autoren: Jenny Siler
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viel hatte Harry verstanden. Jamal und die Frau würden überleben, er nicht.
    Komisch, er hatte sich das Ende so oft ausgemalt, und nun fühlte es sich ganz anders als erwartet an. Er wurde nicht Teil eines größeren Ganzen, sondern kehrte an einen vertrauten Ort zurück. Er spürte Chars warmen Oberschenkel an seiner Wange, das Dickicht ihres Schamhaars an seiner Stirn. Ihre Haut roch wie üblich nach duftenden Ölen: Sandelholz, Nelke, Zimt und Jasmin.
    Die Beretta klickte ganz leise. Das Geräusch klang fern, beinahe zufällig, wie ein Zweig, der unter einem Fuß zerbricht. Die unvermeidliche Konsequenz unseres Daseins.
     
    Es war Morgen, doch der Mond stand noch am Himmel. Sein gehämmertes Antlitz beschrieb einen beinahe vollkommenen Kreis, wie eine abgegriffene Münze. In der Ferne zeichneten sich die Festungsmauern von Taza vor dem Hochplateau des Rifgebirges ab, flackerten in der Dunkelheit wie die Blechlaterne eines Nachtwächters.
    Die Stadt der Eroberer und Eroberten, dachte Kat, als sie sich die Geschichte des Taza-Passes ins Gedächtnis rief. Es war ein öder, abweisender Ort, über den zahllose Armeen hinunter zu den Städten der Ebene gezogen waren. Zuerst die Römer, später die Araber, schließlich die großen marokkanischen Dynastien, die Almohaden, Mereniden und Alawiten, und ganz am Ende die Franzosen.
    Sie waren seit über sechs Stunden unterwegs, bewegten sich in der Dunkelheit langsam nach Osten in Richtung Oujda. Dahinter lag eine der unbewachbaren Wüstengrenzen Nordafrikas. Algerien. Libyen. Ägypten. Nur dem Namen nach Nationen. Willkürliche Linien auf einer Landkarte. Vor ihnen die holprige Ebene, die sich am Horizont dem ersten schwachen Fleck der Dämmerung entgegenwölbte. Schwarzes Land vor einem blau-schwarzen, sternengefleckten Himmel.
    Bald würde der Bus für das erste Gebet des Tages anhalten. Die anderen Mitreisenden würden in die kalte Dunkelheit hinausgehen, und Kat würde es ihnen nun, da sie so weit mitgefahren war, gleichtun müssen.
    Das Fenster spiegelte ihr Gesicht. Zwei Augen, sonst nichts. Kopf und Gesicht hinter dem schwarzen, formlosen Niqab verborgen. Es war, als hätte sie aufgehört zu existieren. Was irgendwie stimmte.
    Sie war am Abend vorher nicht wie verabredet zur Moschee gegangen, sondern von Anfa aus in die Medina gefahren, zu dem Kleiderladen in der Rue Centrale, in dem sie am Morgen die Frau mit dem kleinen Mädchen beobachtet hatte.
    Sie hatte nicht geglaubt, dass Harry zurückkehren würde, das war ihr bei der letzten Begegnung klargeworden. Ihre Entscheidung hatte sie jedoch unabhängig davon getroffen. Sie würde nicht nach Hause fahren, jedenfalls noch nicht. Erst musste sie die Reise, die sie drei Jahre zuvor angetreten hatte, vollenden.
    Kat hatte sich aus praktischen Gründen für eine Verschleierung entschieden. So erschreckend die Vorstellung auch sein mochte, würde ihr der Niqab eine ungestörte Reise ermöglichen. Als sie ihn schließlich anlegte, hatte sie sich nicht besiegt, sondern einfach nur erleichtert gefühlt. Sie begriff, dass in der Anonymität eine ungeahnte Macht lag, eine Freiheit, als wäre sie nicht mehr Teil der Welt, sondern etwas völlig Neues. Ein Geist inmitten der Lebenden. Eine stille Zeugin.
    Kat betrachtete sich im Fenster, zog die schwarzen Handschuhe über die Unterarme und schlug den schweren Stoff der Abaya über Stirn und Schultern. Vor ihnen schwenkten die Scheinwerfer des Busses über die Straßenböschung. Zwei Frauen, gekleidet wie sie, vollzogen dort anmutig das Gebet.
    Sie sah zu, wie sich die beiden hinknieten und vorbeugten, mit der Stirn die Erde berührten, und begriff, dass es keine Auslöschung des Selbst war, sondern das Selbst in seiner reinsten und mächtigsten Form, unbelastet von allen Merkmalen, die das Individuum ausmachten. Das Eine als Ausdruck des Ganzen.
    Der Bus wurde langsamer und blieb vor dem Wagen der Frauen stehen. Der Fahrer öffnete die Tür, die Reisenden standen auf und schlurften mit ihren Gebetsteppichen nach vorn. Ja, dachte Kat, ich habe meine Entscheidung getroffen, genau wie Harry und Colin.
    Sie wusste noch immer nicht genau, was an jenem letzten Abend zwischen Colin und Kurtz vorgefallen war und worauf er sich eingelassen hatte. Sie hatte sich mit der Tatsache abgefunden, dass der Tod des Iraners immer ein Rätsel für sie bleiben würde. Eins aber wusste sie: Wenn Colin gelogen hatte, dann nicht aus politischer Überzeugung oder Treue zu seinem Land, sondern aus
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