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Verschärftes Verhör

Verschärftes Verhör

Titel: Verschärftes Verhör
Autoren: Jenny Siler
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hatte Harry gesagt, als er Kat am Tor zur Medina absetzte. Er hatte ihr nicht verraten, wohin er fuhr, und sie hatte nicht danach gefragt. Der Mann war von einer undurchdringlichen Traurigkeit umgeben. Er trug schwer an der Last seiner Fehlschläge.
    In der Medina irrten einige Touristen, die noch nicht von Fremdenführern mit Beschlag belegt waren, vorsichtig zwischen den Andenkenständen und Gewürzläden umher. Über ihnen ragte das Minarett der Al-Djemma-Moschee empor. Auf den Flachdächern blühte ein Garten aus rostfleckigen Satellitenschüsseln, die ihre Gesichter wie Blumen der Sonne zugekehrt hatten. Weiter hinten in der Gasse, über den Käfigen der Geflügelhändler und den schlaffen Körpern, die nie mehr fliegen würden, erhob sich ein Werbeplakat von Coca-Cola, dessen weiß-roter Schriftzug selbst auf Arabisch vertraut wirkte.
    Kat blieb kurz vor einem Kleiderladen in der Rue Centrale stehen und erschauerte, als sie die Ständer mit den weiten Gewändern betrachtete, deren Farben und Stoffe Individualität vortäuschten, wo es keine gab. Drinnen stöberte eine Frau im Tschador mit schwarzen Handschuhen, das Gesicht hinter einem Niqab verborgen, in einem Regal mit Kinderkleidung, neben sich ein Mädchen von drei oder vier Jahren.
    Mutter und Kind, dachte Kat, während sie die beiden entsetzt betrachtete. Die Frau glitt durch den Laden, schweigsam und körperlos wie ein Geist. Die Kleine drehte sich wie eine Ballerina auf den Zehenspitzen, wobei ihr üppiges dunkles Haar über den Rücken schwang.
    Kat fürchtete sich nicht vor der Frau, das wäre töricht gewesen, sondern vor dem, was sie verkörperte. Es hatte etwas Widernatürliches, wenn man sich völlig aufgab, wenn man die eigene Identität von anderen verschlingen ließ.
    Die Frau blickte auf. Kat fühlte sich ertappt, wandte sich ab und ging rasch weiter.
    Es war fast Mittag, als sie ins Hotel zurückkehrte. Zeit für das Asr-Gebet, dachte sie. Sie maß den Tag schon in Gebeten statt in Stunden und erwartete den Ruf des Muezzins. Sie stieg die enge Treppe in den ersten Stock hinauf.
    Als sie die Zimmertür öffnete, saß Jamal am Fenster und schaute hinunter in die Gasse. Sie las die Panik in seinen Augen, als er sich umdrehte. Sein Gesicht war aschfahl.
    »Schon gut, Jamal«, sagte sie sanft und zwang sich zu lächeln. »Ich bin es nur.« Dann bemerkte sie das fettige Papier auf dem Tisch und zuckte zusammen. »Warst du draußen?«
    Jamal nickte.
    »Ist etwas passiert?« Sie verschloss die Tür hinter sich und trat auf ihn zu. »Was ist los, Jamal?«
    »Nichts«, beharrte er, doch sein rotes Gesicht verriet ihn.
    Ein Kind, dachte Kat, ein Kind, das bei etwas Verbotenem ertappt wurde. »Es ist schon gut, Jamal«, wiederholte sie. »Es ist ganz sicher in Ordnung.«
    Doch er weinte.
    Kat legte ihm die Hand auf die Schulter. Es war das erste Mal, dass sie den Jungen berührte. In Bagram war Körperkontakt streng verboten und eine solche Geste völlig undenkbar gewesen.
    Sein Körper fühlte sich noch zerbrechlicher an, als sie gedacht hatte. Die Knochen bohrten sich in die Haut, spröde wie gesponnenes Glas.
    Er holte tief Luft und erschauerte. Dann blickte er zu ihr hoch. »Ich hatte Hunger.«
     
    »Kurtz?« Jansons Stimme klang am Telefon knapp und nasal, durchsetzt mit dem typischen Ping der Satellitenleitung. »Sind Sie noch da?«
    Es war ein schlechtes Zeichen, dachte Kurtz, wenn nicht Morrow, sondern Janson anrief. Morrow wollte seine Hände in Unschuld waschen. Er drückte den Hörer fester ans Ohr. »Was ist los?«
    Von seinem Platz auf der Terrasse des Café National überblickte Kurtz die Avenue Lalla Yacout in all ihrer sonnenüberströmten Schäbigkeit, die vernachlässigten Art-déco-Fassaden voller Schmiedeeisen und Stuck, Höhenflüge der französischen Kultur, die man in die Hände von Drogenabhängigen und Huren gegeben hatte. Gegenüber vom Café boten sich zwei Jungen im Eingang der Wafa-Bank den Touristen an, die den Geldautomaten benutzten.
    »Es gibt da einen Mann namens Rafa. Er hat eine Druckerei beim Bahnhof Voyageurs. Familienbetrieb. Wir haben früher mit seinem Vater zusammengearbeitet. Kennen Sie ihn?«
    »Ich habe von ihm gehört.« Kurtz lehnte sich zurück und sah den Jungen bei der Arbeit zu. Sie benutzten ein System, eine Art Teile-und-Herrsche, das ganz gut zu funktionieren schien. Zweifellos mussten sie einen Teil ihrer Einnahmen an den Bankdirektor abtreten, weil er ihnen diesen günstigen Platz
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