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Verschärftes Verhör

Verschärftes Verhör

Titel: Verschärftes Verhör
Autoren: Jenny Siler
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überließ.
    »Nun, unser Mr Rafa behauptet, er habe heute Morgen Besuch von zwei Amerikanern gehabt. Eine junge Frau und ein älterer Mann, die einen Pass brauchen.«
    Kurtz setzte sich auf. »Wer war der Mann?«
    Janson hielt inne, auch ein schlechtes Zeichen. »Sein Name ist Comfort. Er ist im Frühjahr in den Ruhestand gegangen, war zuletzt in Madrid. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie ihn kennen. Am Ende wurde er zu einer Belastung. Sie wissen schon, Trinkernase und Zittern noch vor dem Mittagessen. Endlose Geschichten über die alten Zeiten.«
    Kurtz ging im Geiste die Kartei durch, konnte den Namen aber nicht zuordnen. Mit der Europaabteilung hatte er nie viel zu tun gehabt. »Was macht er hier?«
    »Anscheinend hat er sich mit dem Jungen angefreundet. Hat ihm seine Privatnummer zugesteckt, bevor er ging.«
    »Das ist nicht Ihr Ernst!« Kurtz hatte von derartigen Aussetzern gehört, aber nie daran geglaubt.
    »Schön wär’s«, sagte Janson.
    Ein perfektes Paar, Kat und ein sentimentaler Spion. »Also hat sie den Jungen gefunden?«
    »Sieht ganz danach aus.«
    »Und der Junge hat seinen … wie heißt er doch gleich … gefunden?«
    »Comfort, Harry Comfort. Rafa hat ihnen versprochen, sie könnten den Pass heute um sechs Uhr abholen. Ich habe ihm gesagt, dass Sie kommen. Er dürfte sich sehr kooperativ zeigen.«
    »Und was soll ich wegen Comfort unternehmen?«
    Diesmal gab es kein Zögern. »Finden Sie heraus, was er weiß, und dann erlösen Sie ihn von seinem Elend.«
     
    Harry stand im riesigen granitenen Innenhof der Hassan-II.-Moschee, umgeben von den erlesensten Beispielen vollendeter Geometrie, und fragte sich unwillkürlich, was Kepler, der sein ganzes Leben der Vereinigung von Mathematik und Göttlichkeit gewidmet hatte, wohl zu diesem Bau gesagt hätte.
    Wie alle guten Christen seiner Zeit hatte Kepler die Mauren gehasst und gefürchtet; eine seiner bedeutendsten Entdeckungen, die Supernova von 1604, hatte er als Vorboten des islamischen Niedergangs und der Rückkehr Christi gedeutet. Allerdings argwöhnte Harry, dass selbst Kepler von der Eleganz dieser Vision beeindruckt gewesen wäre, von den makellosen Wiederholungen der Formen und Linien, von den Bogengängen, die sich ins Unendliche zu erstrecken schienen, und dem rechteckigen Minarett, das sich wie ein primitiver Phallus über dem Bau erhob.
    Dieser Ort, dachte er, während eine Gruppe Schulkinder über die gewaltigen, übereinander angeordneten Galerien geführt wurde, die jeweils mehreren tausend Erwachsenen Platz boten, sollte das Individuum auslöschen und den Einzelnen mit dem unendlichen Ganzen verschmelzen lassen. Dies war ein Forum Romanum des Gebets, das hunderttausend Gläubigen Raum bot. Einer Armee Gottes, bereit zum Kampf.
    Ein Windstoß wehte vom Atlantik herüber, und Harry schwankte einen Augenblick auf den Füßen. Eine Welle schlug gegen den Seedeich und bespritzte eine Gruppe junger Mädchen, die sich für ein Foto versammelt hatten. Sie stoben kreischend und lachend auseinander, wobei ihre bunten Hijabs sorglos im Wind flatterten.
    Plötzlich begriff Harry, dass er ein schlimmes Ende nehmen würde. Das hatte er sich nie eingestanden. Er würde sterben, wie er es befürchtet hatte, ungläubig und unerlöst, in irgendeiner fremden Stadt.
    »Bevor das Universum erschaffen wurde«, zitierte er aus dem Mysterium Cosmographicum, »gab es keine Zahlen außer der Dreifaltigkeit, die Gott selbst ist. Denn die Linie und die Ebene beinhalten keine Zahlen: Hier herrscht die Unendlichkeit selbst.«
    Diese Passage hatte ihn bisweilen getröstet oder sogar befreit, klang nun aber ebenso hohl wie der Wind im leeren Haram der Moschee.

30
     
     
     
     
    Es war ein warmer Septembernachmittag. Die Palmen am Boulevard Sour Jdid wirkten trocken und zerzaust, die Gebäude aus der Kolonialzeit erstrahlten im Licht des Meeres, weiß und von der Sonne blank gescheuert wie gebleichte Knochen. Harry hatte sich aus unerfindlichen Gründen entschieden, zu Fuß von der Moschee zur Medina zu gehen, und war dabei mächtig ins Schwitzen geraten. Er überquerte die Place de l’Admiral Philbert und betrat das alte Postamt. Es war nicht der gesunde Schweiß eines Athleten, sondern der widerliche Gestank eines Körpers, der keine Anstrengung gewöhnt war und dringend einen Drink brauchte.
    Er blieb einen Augenblick im Eingang stehen, bis sich seine Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten. In den dunklen Tiefen des Gebäudes suchte er nach den
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