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Verschärftes Verhör

Verschärftes Verhör

Titel: Verschärftes Verhör
Autoren: Jenny Siler
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Prolog
Marokko 1983
    Nichts war so, wie Manar es sich vorgestellt hatte. Ihre Mutter hätte da sein sollen und ihre beiden Tanten. Ihre ältere Schwester, deren Hand sie bei zwei Geburten gehalten und die geschworen hatte, das Gleiche für sie zu tun. Es hätte saubere Laken und Schüsseln mit warmem Wasser geben sollen und jemanden, der ihr mit einem Tuch die Stirn kühlte. Auf der anderen Seite des Hauses hätten die Männer Yusuf mit Geschichten über die Geburt ihrer eigenen Kinder unterhalten, so dass er, wenn die Zeit gekommen war, wach sein und den adhãn sprechen und den tahnik vollziehen könnte, bei dem man dem Kind einen ersten süßen Klecks Datteln im Mund verrieb.
    Doch hier gab es nichts davon.
    Das Zimmer roch nach Blut und Fäkalien. Sie stammten von Manar, aber auch von anderen Frauen. Altes Blut und die Flecken an den ehemals weißen Wänden erinnerten an vergangene Katastrophen. Geburt oder Tod oder beides.
    An der gegenüberliegenden Wand hing ein steifes Porträt von Hassan II. Ein alternder Playboy, der im teuren französischen Anzug und roten Fez den gütigen König gab. Polospieler, Rennfahrer, Genussmensch, dachte Manar, während sie seine schlanken Finger und das europäische Gesicht betrachtete. Folterer, Mörder, Vergewaltiger.
    Die gerundete Stirn des Arztes glänzte im grellen Licht des Gefängniskrankenhauses wie eine fettige Lammkeule am Spieß. Es war vier Uhr morgens. Manar roch den abgestandenen Alkohol im Atem des Mannes, den süßen Gestank der Hure, die er zurückgelassen hatte. Es war derselbe Mann, der sie untersucht hatte, als man sie herbrachte, und missmutig bestätigt hatte, was sie den Wärtern schon bei den ersten Schlägen und Demütigungen so verzweifelt hatte sagen wollen: dass sie schwanger war.
    Damals hatte der Arzt nicht gewagt, ihr ins Gesicht zu blicken, und er wagte es auch jetzt nicht.
    »Die Füße hoch«, sagte er zu der Krankenschwester. Manar spürte die Hände der Frau an ihren Knöcheln, den kalten Stahl der Halterungen.
    Eine Wehe überkam sie, schneller und heftiger als die vorherigen. Manar holte tief Luft und verlagerte die Hüften, um den Schmerz aufzufangen.
    »Sie darf sich nicht bewegen«, knurrte der Arzt.
    Er schob seine Hand in sie, als wäre sie ein Tier. Sein Handgelenk drückte gegen ihr Schambein, die fleischigen Finger befingerten ihr Baby. Und der Schmerz – gierig, gefräßig, er forderte alles und noch mehr. Sie drehte den Kopf zur Seite und würgte, erbrach den flüssigen Mageninhalt auf den schmutzigen Boden.
    »Sie darf sich nicht bewegen!«
    Die Krankenschwester ergriff Manars Hand und bedachte sie mit einem schwachen, verschwörerischen Lächeln. Wie kannst du es wagen?, dachte Manar. Es gibt nichts, was uns verbindet. Gar nichts.
    »Er wird das Baby jetzt drehen«, erklärte die Krankenschwester. »Du musst still liegen. Gleich ist es vorbei.«
    Einen Moment lang war es das auch. Manars Bauch entspannte sich, und sie spürte, wie sich das Baby in ihr bewegte. Die Hand des Arztes glitt zwischen ihren Beinen hervor.
    Bitte, Gott, dachte sie und nutzte den Augenblick der Ruhe, um ein letztes Gebet zu sprechen. Bitte nimm das Kind zu dir, bevor es verdorben wird. Die nächste Welle überkam sie und mit ihr der eindeutige Drang zu pressen.
    »Das ist der leichte Teil«, sagte die Krankenschwester.
    Zu Manars Überraschung hatte sie recht. Nach fünfzehn Stunden Schmerzen bedeutete das qualvolle Pressen eine Erleichterung.
    Als das Baby schließlich kam, reichte der Arzt es nicht Manar, sondern der Krankenschwester, und durchtrennte die Nabelschnur. Das Baby war still und wie betäubt, die Haut dunkel wie ein Bluterguss. Einen Moment lang war Manar zutiefst erleichtert, da man ihr Gebet erhört hatte. Dann aber schrie das Kind. Es war doch nicht tot.
    Der Junge schrie. Immerhin wird er mir eine Gnadenfrist verschaffen, dachte Manar, selbstsüchtig wie am ersten Abend, als sie sich mit der naiven Annahme getröstet hatte, man werde sie nicht vergewaltigen, wenn sie ein Kind in sich trug. Selbst diese Tiere würden ihr nichts antun, solange sie Milch für das Kind hatte.
    Sie streckte die Arme nach dem Jungen aus, doch die Schwester schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid«, flüsterte sie. »Das muss dir doch klar gewesen sein.«
    »Der adhãn«, bat Manar, als ihr klar wurde, dass sie von allen verlassen war, dass sie niemanden verschonen würden. Ihr Kind würde leben, und sie würde sterben. »Bitte, im Namen Allahs, ich muss den
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