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Verschärftes Verhör

Verschärftes Verhör

Titel: Verschärftes Verhör
Autoren: Jenny Siler
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die ganze Geschichte ausgedacht. Mein Nachfolger, dieser Idiot, hat gedroht, ihm den Hahn abzudrehen, wenn er nichts Spektakuläres liefert. Also verfiel er auf diese Idee.«
    Morrow sagte nichts. Harry hatte zweifellos recht, und er glaubte ihm. So etwas kam vor, doch die Lüge war inzwischen bedeutungslos geworden. »Was ist mit der Frau?« Ihr galt seine eigentliche Sorge.
    »Sie wird keine Schwierigkeiten machen«, sagte Harry.
    »Wir sind uns begegnet«, erinnerte ihn Morrow.
    »Sie weiß aber nichts«, beharrte Harry. »Ich habe mich davon überzeugt.«
    »Ach ja? Aber du weißt etwas. Und das ist dein Problem.«
    Beide schwiegen und dachten über die Konsequenzen dieser letzten Äußerung nach.
    Morrow warf einen Blick auf die Broschüre. Zwei Tote mehr oder weniger – was machte das schon?
    »Susan ist tot«, sagte er erschöpft. Er war erleichtert, es jemandem sagen zu können, der die Tragweite der Worte verstand. Eine Art Beichte, dachte Morrow, sie konnten einander gegenseitig die Absolution erteilen.
    Harry räusperte sich, sagte aber nichts.
    »Am Ende war sie zerstört«, sagte Morrow. »Der Krebs hat sie zerstört.«
     
    »Warte, bitte warte doch!«
    Jamal blieb stehen und drehte sich zum Haus um.
    Eine Frau, eine dunkle Gestalt in einer Abaya, stand an einem Fenster. Sie winkte und deutete zum Eingangstor. »Sie kommt!«, rief sie. »Geh bitte nicht weg.«
    Jamal schaute Kat an.
    Sie nickte aufmunternd.
    »Sie kommt!«, rief die Frau am Fenster noch einmal.
    Die Tür der Villa öffnete sich, und eine andere Frau erschien. Sie war klein und dünn und trug einen schlichten braunen Burnus. Ihr Kopf war unbedeckt, die Füße waren nackt, und das lange Haar fiel ihr wirr über die Schultern, als hätte sie schon geschlafen. Sie kam rasch die Stufen herunter, ging durch den kleinen Hof und blieb vor dem Tor stehen, wo sie sich am Schloss zu schaffen machte.
    »Alles in Ordnung«, sagte Kat, legte Jamal die Hände auf die Schultern und schob ihn sanft nach vorn.
    Er rührte sich nicht. Er hatte diesen Augenblick so oft und in vielfältiger Weise geprobt, doch nun wusste er nicht, was er tun sollte.
    Meine Mutter, sagte er sich. Er wusste ohne jeden Zweifel, dass sie es war. Und doch war sie anders, als er erwartet hatte. Winzig klein, zartgliedrig wie ein Vogel, mit graumeliertem Haar und langen, schlanken Füßen, die seinen glichen.
    Das Tor schwang auf. Sie lief heraus, stürzte sich auf ihn, drückte seinen Kopf nach unten und suchte mit den Fingern in seinem Haar. Er spürte ihre Lippen an seinem Ohr, ihren Atem, als sie zu sprechen begann:
     
    Allah ist groß.
    Ich bezeuge, dass es keinen Gott gibt außer Allah.
    Ich bezeuge, dass Muhammad der Gesandte Allahs ist.
    Kommt zum Gebet.
    Kommt zur Erlösung.
     
    Dann das zweite Gebet, das sie ihm ins linke Ohr flüsterte:
     
    Es gibt keine Stärke noch Macht außer in Allah.
     
    Als sie fertig war, ließ sie ihn los und trat einen Schritt zurück. »Dein Name, mein Sohn«, sagte sie. »Wie lautet dein Name?«
    Schweigen.
    Schließlich antwortete die Amerikanerin für ihn. »Er heißt Jamal.«
     
    Harry schloss die Augen und versuchte wie schon so oft, jenen ersten Nachmittag im Hotel Duc heraufzubeschwören. Es war nicht der Sex als solcher, an den er sich erinnern wollte, selbst er konnte für jene erste unbeholfene Vereinigung keine nostalgischen Gefühle aufbringen. Nein, es ging ihm um jene Augenblicke in der Bar, bevor die Intimität alles verändert hatte. Jetzt verstand er, dass es wohl die einzigen unverfälschten Augenblicke gewesen waren, die er und Susan miteinander erlebt hatten.
    Er sah sie vor sich, die Augen rot verweint, in ihrem Sonnenkleid, das kaum die tennisgestählten Oberschenkel bedeckte und dessen Lochmuster offenbarte, was darunter lag. Braune Haut und ein weißer Slip. Alles andere, der flaumige blonde Streifen, der von ihrem Nabel abwärts führte, und die beiden Grübchen am Ende der Wirbelsäule, war noch verborgen.
    Manchmal machte die Intimität alles kaputt, dachte er. Dann wieder war das Gegenteil der Fall, so wie bei Char, sie war ein Mensch, den man nicht trotz seiner Makel, sondern gerade deswegen liebte. Nicht aus Mitleid, sondern aus Ehrfurcht, man verehrte das, was das Menschsein ausmachte.
    »Ja, Sir«, hörte Harry Kurtz sagen. Er klang enttäuscht, wie der Klassenschläger auf dem Schulhof, der seinen Meister gefunden hat. »Nein, Sir, kein Problem.« Dann war der Anruf beendet.
    Sie würden überleben, so
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