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Verschärftes Verhör

Verschärftes Verhör

Titel: Verschärftes Verhör
Autoren: Jenny Siler
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Stock führte. Vom Treppenabsatz gingen mehrere Zimmer ab. Das Licht, das er gesehen hatte, drang unter der hintersten Zimmertür hindurch.
    »Hallo!«, rief Jamal, beugte sich vor und spähte ins erste Zimmer. Er erkannte einen verschlissenen Sessel und einen staubigen Kleiderschrank, fleckige Bettwäsche, abgenutzt von illegalen Schläfern tierischer und menschlicher Natur, die manchmal kaum zu unterscheiden waren. Hier verschwammen die Grenzen.
    Die einzige Antwort kam von oben, Pfoten, die über die Dielenbretter scharrten.
    »Hallo?«, rief er noch einmal, und diesmal rührte sich etwas. Ein Mann trat aus dem erleuchteten Zimmer, eine Gestalt im langen, dunklen Mantel. Er war ein bisschen älter als Mr Justin, das Gesicht hager und schmal im geisterhaften Licht.
    »Wo ist Mr Justin?«, fragte Jamal und umklammerte das eiserne Treppengeländer.
    Der Mann lächelte, aber es geriet zum schiefen Grinsen eines Halloween-Kürbisses. »Sieht aus, als wäre er spät dran. Muss aber gleich kommen.«
    »Ja«, sagte Jamal, wohl wissend, dass Justin vermutlich in seinem ganzen Leben noch nie zu spät gekommen war.
    Instinktiv taxierte er den Fremden, das hatte ihn der Selbsterhaltungstrieb gelehrt. Er war der Typ Mann, der einen für seine Vorlieben hasste und einem die Schuld an dem gab, was sie miteinander taten, für den Verachtung und Begierde untrennbar verbunden waren.
    Tief unten öffnete sich knarrend die Eingangstür, und der Fremde schaute an ihm vorbei.
    »Das müsste er sein«, sagte er und lächelte gezwungen. Jamal lächelte zurück.
    Ein Fuß berührte die erste Stufe, worauf Jamal tief Luft holte und nach oben stürzte. Der Fremde griff nach seinem Hosenbein. Als Jamal sich umdrehte, erhaschte er einen Blick ins erleuchtete Zimmer und sah Mr Justin mit aufgerissenen Augen wie eine leblose Puppe auf dem Bett liegen. Jamal riss mit aller Kraft an seinem Bein und schoss die Treppe hinauf.
    Aufs Dach, sagte er sich, mehrere Stufen auf einmal nehmend. Im Geiste ging er die Lagepläne aller Verstecke und Drogenhöhlen durch, in denen er jemals gewesen war. Es gab immer mindestens einen Hinterausgang.
    Im dritten und obersten Stock blieb er stehen. Er konnte den Mann unter sich hören, dazu eine zweite Stimme. Rasches Geflüster, dann wurde es still. Jemand kam vorsichtig herauf.
    »Jamal!«, rief eine Stimme, die er noch nicht kannte. »Alles in Ordnung, Jamal. Wir wollen nur mit dir reden.« Er sprach arabisch, aber mit starkem Akzent.
    Jamal blinzelte und schaute sich auf dem Treppenabsatz um, suchte nach einem Ausgang. Das Licht aus dem ersten Stock reichte gerade aus, um Umrisse zu erkennen. Die Wände waren niedriger als in den unteren Stockwerken, die Zimmer hatten eine starke Dachschräge. Er hatte auf eine Tür oder Bodenluke gehofft, die aufs Dach führte, aber es war nichts zu sehen.
    »Jamal? Wir sind deine Freunde, Jamal. Wie Mr Justin.« Wieder der zweite Mann, wieder der Akzent.
    Bagram, dachte Jamal. Dort hatte er den Akzent schon einmal gehört. Es war das unbeholfene Golf-Arabisch, das die amerikanischen Soldaten im Gefängnis gesprochen hatten.
    Irgendwo knarrte ein loses Brett. Jamal tauchte in das Zimmer zu seiner Rechten und schloss die Tür. Das ganze Haus roch nach Wildkatzen, doch in diesem engen Raum war der Gestank überwältigend. Jamal hielt sich die Nase zu und atmete durch den Mund.
    Er trat rasch ans Fenster, stieß es auf und schaute sich prüfend um. Viele Möglichkeiten blieben ihm nicht. Das Dach gegenüber war am aussichtsreichsten, aber ein ganzes Stockwerk tiefer als das Fenster, an dem er stand. Der Abstand zwischen den Häusern betrug etwa einen Meter. Er konnte gut springen, war leicht und doch stark genug, um den Sturz abzufedern, doch das hier kostete selbst ihn Überwindung.
    Auf dem Treppenabsatz erklangen Geräusche, ein Schritt und noch einer. Jamal kletterte auf die Fensterbank und zwängte sich durch die enge Öffnung. Seine Hände zitterten, seine Beine auch. Adrenalin schoss durch seinen ganzen Körper.
    Er klammerte sich von außen am Fensterrahmen fest, zog die Beine hoch und beugte sich leicht vor, malte sich den Sprung aus, maß die Entfernung, die er zurücklegen musste. Eineinhalb Meter, um ganz sicherzugehen. Der Junge sprang.

4
Virginia
    Die Sonne war gerade aufgegangen und tauchte die Blue Ridge Mountains in rosigen Dunst. Es war schon heiß, die Luft feucht und schwer in Kats Lungen, als sie zwischen den Kiefern um die letzte Kurve bog und den Hang
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