Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Verschärftes Verhör

Verschärftes Verhör

Titel: Verschärftes Verhör
Autoren: Jenny Siler
Vom Netzwerk:
wie braunes Glas. Es war das andere Madrid, weit entfernt von den feuchtkalten Straßen in Lavapiés und Jamals Zimmer über der Halal-Metzgerei, das erfüllt war von den Gerüchen und Geräuschen des Schlachtens. Jamal sah wenig von der Stadt, in der er stets ein Außenseiter bleiben würde.
    Er bewegte sich durch die Menge, überquerte die Plaza und ging weiter nach Norden zur Gran Via. Er war schon öfter in Malasaña, dem inoffiziellen Rotlichtbezirk, gewesen, wenn seine Lage ganz verzweifelt wurde und er auf die Schnelle etwas Geld verdienen musste. Obwohl es heute Abend nicht darum ging, spürte er, wie sich die Furcht in seinem Magen ballte, die Furcht vor dem, was kommen würde.
    Calle del Desengaño Nummer fünfzehn. Jamal wiederholte im Geist die Adresse, während er versuchte, sich auf die bevorstehende Aufgabe zu konzentrieren. Was genau er den Amerikanern erzählen würde. Er war am Abend nicht in sein Zimmer zurückgekehrt, sondern in der Wohnung in der Calle Tres Peces geblieben und die Geschichte so lange durchgegangen, bis er sie beinahe selbst glaubte. Kurz vor der Dämmerung war er schließlich eingeschlafen.
    Jamal spürte die zornigen Blicke der Huren, als er von der Gran Via in die Calle del Desengaño abbog. Die Frauen waren lange genug im Geschäft, um zu erkennen, wann Konkurrenz drohte, und obwohl Jamal an diesem Abend keinen Köder auswarf, blieben sie misstrauisch.
    Eine stämmige Brünette in rotem Bodysuit und zerschrammten goldenen Stiefeln lehnte sich wie ein grotesker Kuckuck, der die Zeit verkündet, aus ihrem Hauseingang. »Was für ‘n hübscher Arsch, Mädels!«, rief sie. Sie war klein, mit dicker Taille. Ihr Bauch wölbte sich unter dem engen Anzug, und der nackte rechte Oberschenkel wurde von einem faustgroßen purpurnen Fleck geziert.
    Jamal zwang sich, auf den Boden zu schauen und einen Fuß vor den anderen zu setzen, während er die Adresse, die der Amerikaner ihm genannt hatte, wie ein Mantra wiederholte. Nummer fünfzehn. Nummer fünfzehn. Es war abstoßend, wie die Frauen ihre körperlichen Makel zur Schau stellten, ihr Mangel an Scham furchterregend.
    Jemand zischte etwas hinter ihm her. Jamal drehte sich um und sah einen anzüglich grinsenden Mann mit dunklen Augen und gefurchtem Kinn, die nackten Arme mit Krusten und Wunden bedeckt.
    Jamal taumelte weg von der Erscheinung, zwang sich mit seiner ganzen Willenskraft dazu, weiterzugehen. Nummer neunzehn. Nummer siebzehn. Er blieb vor der nächsten Tür stehen und schaute an der schmutzigen Fassade des Gebäudes empor. Keine Nummer.
    Auf einem Schild stand HOTEL DE LA LUNA, darunter prangte ein einsamer verschmutzter Stern. Offenbar hatte das Etablissement schon länger keine zahlenden Gäste mehr, der Stern stammte aus einer anderen Zeit. Die Eingangshalle war dunkel, die gläserne Tür von Rissen durchsetzt.
    Jamal suchte mit den Augen die Straße ab. Nummer dreizehn. Nummer neun. Ja, sagte er sich, das musste es sein. Er ging die drei Stufen hinauf und griff in der Erwartung, sie verschlossen zu finden, nach der Tür. Sie schwang mühelos auf. Er trat ein. Blinzelte im Dämmerlicht der Eingangshalle und wappnete sich gegen den Gestank von Katzenpisse und Tod.
    Sag ihnen einfach, was du weißt. Dann wird alles gut, hörte Jamal den Amerikaner sagen. Wie aber sollte er ihnen erklären, dass nicht das, was er wusste, sondern das, was er nicht wusste, das Problem war?
    Ein vertrauter Ort, dachte Jamal, während er sich in der dunklen Eingangshalle umschaute. Wie viele Nächte hatte er an solchen Orten verbracht, war dankbar gewesen für den Schutz, den sie boten? In wie vielen Städten, immer getrieben von der Angst, jemand könne ihn entdecken? Ganz links befand sich eine kleine Rezeption, und an der Wand dahinter hingen Postfächer mit Briefen, die niemand abgeholt hatte. Rechts von der Rezeption führte eine schmale Treppe in den ersten Stock, aus dem schwaches Licht schien.
    Jamal ging zur Treppe, darauf bedacht, nicht auf die weggeworfenen Spritzen auf dem Boden zu treten, und stieg hinauf. Sein Magen fühlte sich ganz leicht an, seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Doch nun, da er am Ziel war und die Begegnung mit den Amerikanern unmittelbar bevorstand, wollte er sie einfach nur hinter sich bringen.
    Im ersten Stock hielt er inne, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Es gab keinen richtigen Flur, nur einen kleinen Absatz und die nächste Treppe, die unmittelbar rechts von ihm in den zweiten
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher