Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Verschärftes Verhör

Verschärftes Verhör

Titel: Verschärftes Verhör
Autoren: Jenny Siler
Vom Netzwerk:
hinunter zum Campus lief. Auf der Straße unter ihr quälte sich ein Trupp Kadetten zwischen den Bäumen bergauf. Zwei Wochen, dachte Kat, vierzehn Tage Rennen und Gebrüll noch vor der Morgendämmerung. An diesem Punkt gaben die Ersten gewöhnlich auf.
    Es waren etwa drei Dutzend Kadetten, die sich kaum voneinander unterschieden. Die Frauen trugen die Haare fast so kurzgeschoren wie ihre männlichen Kameraden. Vorschriftsgemäß, dachte Kat, als sie beiseitetrat, um die Läufer durchzulassen. Sie war zur Reserve gegangen und hatte im gleichen Alter wie die Kadetten die Grundausbildung durchlaufen, war sogar im Krieg gewesen und verstand daher, wie notwendig diese ersten Monate waren. Dennoch kamen ihr die jungen Leute anders vor, naiver und gleichzeitig zynischer, als sie und ihre Mitrekruten damals gewesen waren. Sie spürte den Drang, sie zu beschützen.
    Der Hauptteil der Truppe lief an ihr vorbei, gefolgt von den Nachzüglern, die sich schweratmend bergauf mühten.
    Kat wusste aus Erfahrung, dass einige der entschlossensten Kadetten aus ebendieser Gruppe stammten – diejenigen, die etwas beweisen wollten.
    »Ihr müsst es wollen!« Einer der Ausbilder war nach hinten gelaufen und trieb die Nachzügler vor sich her, wobei sich seine Beleidigungen auf eine einsame Kadettin konzentrierten, die ganz hinten in der Gruppe lief.
    Kat kannte das Mädchen, eine sanfte und durchaus fähige junge Frau, aus ihrem Arabischkurs für Anfänger. Sie war den Tränen nahe, das graue T-Shirt und die roten Shorts durchgeschwitzt, das Gesicht dunkelrot von der Anstrengung, mit den anderen Schritt zu halten.
    Kat lächelte ihr ermutigend zu. Es gab kaum weibliche Kadetten in der Akademie, und deren Erfolge und Misserfolge gingen ihr sehr nahe. Doch das Mädchen lächelte nicht zurück, sondern schaute Kat mit einer Mischung aus Zorn und Furcht an, als empfände sie deren Mitgefühl als Bedrohung.
    Kat wandte sich ab und lief weiter, legte den letzten knappen Kilometer mit langen Schritten zurück, hinunter in die Schlucht, die die hintere Grenze des Campus bildete, und die mörderische Anhöhe hinauf. Das letzte Stück führte über den Paradeplatz. Sie atmete schwer, als sie die Haustür erreichte. Ihre Kleidung war schweißnass. Als Kat in die klimatisierte Diele trat, überzog eine Gänsehaut ihren verschwitzten Körper.
    Die rote Lampe des Anrufbeantworters blinkte hartnäckig. Colin, dachte Kat, da sie nicht wusste, wer sonst so früh am Morgen anrufen sollte. Vielleicht wollte er ihr den ersten Zuspruch des Tages spenden. Ziemlich unwahrscheinlich nach allem, was zwischen ihnen vorgefallen war. Jedenfalls konnte der Anruf warten, bis sie geduscht hatte. Insgeheim war sie sogar erleichtert, dass er sie nicht erreicht hatte.
    Sie ging ins Bad, drehte den Wasserhahn auf, streifte die verschwitzte Kleidung ab und stieg in die Badewanne. Auf den Tag genau vor drei Jahren, am 11. September, hatte ihr Bruder in seiner Wohnung in Astoria das Gleiche getan. Er war frühmorgens gelaufen und hatte rasch geduscht, bevor er mit dem Zug zur Arbeit fuhr.
    Als sie allein seine Sachen abgeholt hatte, hing die Sportkleidung noch an der Badezimmertür. Shorts und Tiefschutz und ein salzfleckiges T-Shirt, das noch immer nach ihm roch.
    Sie duschte, trocknete sich ab und ging im Bademantel in die Küche. Unterwegs drückte sie auf den Knopf des Anrufbeantworters. Zuerst erklang ein kurzer Piepton, dann eine Männerstimme mit vertrautem schottischem Akzent:
    Katy?
    Katy, hier ist Stuart.
    Kat erstarrte. Nicht Colin, sondern sein bester Freund. Er hatte ab und zu bei Colin gewohnt, nachdem ihre Einheit aus Afghanistan zurückgekehrt war. Er und Kat kannten einander flüchtig, wie es in solchen Fällen üblich war. Beide beneideten einander mehr als nötig und waren eifersüchtig auf das, was der andere zu bieten hatte. Andererseits hatte Stuart kaum Grund zur Eifersucht. Nach den ersten rauschhaften Wochen in Bagram war ihre Beziehung zu Colin absolut keusch gewesen.
    Tut mir leid, dass ich so früh anrufe. Ich hatte gehofft, dich noch vor der Arbeit zu erwischen. Könntest du mich bitte so bald wie möglich zurückrufen? Ich bin bei Colin in der Wohnung.
    Etwas stimmte nicht. Kat ging ins Wohnzimmer und hörte die Nachricht noch einmal ab, versuchte, Stuarts Tonfall zu interpretieren. Colin war etwas zugestoßen. Gewöhnlich tauschten sie und Stuart Höflichkeitsfloskeln aus, würden einander aber kaum in den frühen Morgenstunden anrufen, um nett
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher