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Verschärftes Verhör

Verschärftes Verhör

Titel: Verschärftes Verhör
Autoren: Jenny Siler
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der Akademie über Gott und Gerechtigkeit, über den Mut jener, die gestorben waren, die Feigheit ihrer Mörder und Gottes schlussendliche Gnade.
    Kat hatte das alles in den letzten drei Jahren viel zu oft gehört und ließ ihre Blicke über das Wandgemälde schweifen, über die Gesichter der Kadetten, die entschlossen vorwärtsdrängten. Sie wusste definitiv, dass der Künstler an jenem Tag nicht dort gewesen war, sondern die Szene Jahrzehnte später mit seinem eigenen Sohn nachgestellt hatte. Der Angriff hatte auf einem Hügel voller Gartenwicken und Klee stattgefunden, und nichts als ein sanfter Wind hatte sich ihnen entgegengestellt. Auch wusste sie, dass der Maler Jahre später zurückgekehrt war, nachdem sein Sohn im Zweiten Weltkrieg als Soldat nach Europa gegangen war. Kadetten hatten ihn eines Abends dabei überrascht, wie er verzweifelt das Gesicht des Jungen von der Leinwand zu löschen versuchte.
    »Herr, schaffe mir Recht.« Hinter ihr ertönten in geübtem Gleichklang die ersten Worte des sechsundzwanzigsten Psalms. »Denn ich bin unschuldig! Ich hoffe auf den Herrn, darum werde ich nicht fallen.«
    Im Knien senkte sie den Kopf und drehte sich zu den Reihen der Kadetten um, dem Meer grauer Uniformen und gebeugter Schultern, den stoppeligen Köpfen, die an frisch geschlüpfte Küken erinnerten.
     
    Prüfe mich, Herr, und versuche mich.
    Läutere meine Nieren und mein Herz.
    Denn deine Güte ist vor meinen Augen,
    Und ich wandle in deiner Wahrheit.
    Ich sitze nicht bei eitlen Leuten
    Und habe nicht Gemeinschaft mit den Falschen.
    Ich hasse die Versammlung der Boshaften
    Und sitze nicht bei den Gottlosen.
    Ich wasche meine Hände in Unschuld
    Und halte mich, Herr, zu deinem Altar.

5
Virginia
    »Ist sie wach?«, fragte Dick Morrow, während Marina den Kessel auf den Herd stellte.
    Die Frau nickte und machte sich an Susans Frühstückstablett zu schaffen. Eine Kanne Tee und zwei Keramikbecher. Ein grauenhafter Milchshake aus der Dose. An diesem Morgen war es Schokolade, wie Morrow konstatierte. Er musste daran denken, wie sehr Susan die Trüffel von Fauchon geliebt hatte, und fragte sich, wie sie diese Getränke ertragen konnte.
    »Heute vielleicht guter Tag«, sagte die alte Krankenschwester mit der üblichen russischen Derbheit, als erinnerte sie die frohe Hoffnung nur an die schlechten Tage, die noch kommen würden.
    Es war Susans Wunsch gewesen, sie einzustellen. Ausgerechnet diese Frau, dabei hatte sie sich so viele angesehen. Morrow kam es vor, als hätte sie die Russin ausgewählt, um ihn zu bestrafen.
    Ich nehme an, du möchtest die hübsche Filipino, hatte Susan bissig bemerkt, als er ihre Entscheidung anzweifelte, doch er hatte nur gedacht, dass jede in Ordnung gewesen wäre. Jede, nur nicht dieses Ungeheuer.
    Er hatte Marina sogar über die alten Kanäle durchleuchten lassen. Zu seiner Enttäuschung war sie sauber, ein Schützling amerikanischer Evangelikaler, die Gläubige aus der früheren Sowjetunion unterstützten. Eine Krankenschwester aus Leningrad, die sich für ein Flugticket und eine Arbeitserlaubnis an Gott verkauft hatte.
    Und nun war sie hier in seinem Haus, der Geist aller Russen, denen er je begegnet war. Mit grimmigem Gesicht ertrug sie die Last des Lebens. Und er musste sich damit abfinden, dass sie in der frühmorgendlichen Stille, die eigentlich ihm allein hätte gehören sollen, aufeinandertrafen.
    Der Kessel pfiff, Marinas knotige Hand schoss vor. Sie füllte die Teekanne und gab in jeden Becher einen großzügigen Klecks Brombeermarmelade. Die Marmelade hatte sie wohl selbst eingekocht. Als Morrow zum ersten Mal das Einmachglas ohne Etikett in der Küche gesehen hatte, musste er sofort an Moskau denken – an das furchtbare kleine Lebensmittelgeschäft in der Nähe der Botschaft, an die halbleeren Regale, in denen klebrige Flaschen mit Fruchtsirup und Konserven standen, die aussahen, als wären sie der Küche irgendeiner Babuschka entsprungen. In der einen Woche gab es falsch ausgezeichnete Kisten mit kubanischen Erdnüssen, in der nächsten angeschimmelte syrische Apfelsinen. Überreste, mit denen ein Imperium gefüttert wurde.
    Marina nahm das Tablett und wandte sich an Morrow. »Sie bringen?«
    Sie wollte ihn reizen, da sie die Antwort ganz genau kannte. Er schüttelte den Kopf. »Sie will doch, dass du zu ihr kommst.«
    »Ja«, pflichtete sie ihm bei, ließ aber im Vorbeigehen ein leises Knurren hören, als wollte sie ihm ihre grenzenlose Verachtung zeigen.
    Morrow
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