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Verschärftes Verhör

Verschärftes Verhör

Titel: Verschärftes Verhör
Autoren: Jenny Siler
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des Ortes zurück.
    Als sie sicher in ihrem Zimmer mit den beigefarbenen Möbeln und der Tapete mit dem Lilienmuster saß, hatte sie sich eingeredet, ihr Unbehagen sei auf die Erschöpfung zurückzuführen. Wenn sie erst gegessen und geschlafen habe, werde sich die Panik legen, die sie seit Verlassen der Fähre quälte. Am nächsten Tag würde sie zeitig aufstehen und in einem der Cafés am Petit Socco, die William Burroughs beschrieben hatte, einen Kaffee trinken und durch die gewundenen Gassen der Altstadt zur Kasbah schlendern.
    Doch als sie spät am nächsten Morgen erwachte, ließ sie sich das Frühstück aufs Zimmer kommen: starken französischen Kaffee, Croissants und zwei gebratene Eier. Stärkung für den Tag, hatte sie sich gesagt. Was machte es schon, wenn sie sich ein bisschen Zeit ließ? Sie konnte Wochen oder Monate hier bleiben.
    Am frühen Nachmittag des 11. September verließ sie schließlich geduscht und angezogen ihr Zimmer, ohne zu ahnen, dass die Welt und ihre Rolle darin sich unwiderruflich verändert hatten.
    Unten in der Lobby drängte sich eine kleine Gruppe Gäste vor dem Fernseher und sah die ersten verstörenden Bilder vom Angriff auf das World Trade Center. Der zweite Einschlag stand noch bevor, und man war einhellig der Meinung, es handle sich um einen schrecklichen Unfall. Doch selbst in jenen ersten verwirrenden Augenblicken hatte Kat es besser gewusst, hatte begriffen, dass sie nach Hause musste. Und trotz des Grauens war sie froh darüber, froh, sich nicht weiter vorwagen zu müssen.
    Von Max hatte sie da noch nichts gewusst, hatte nicht im Traum daran gedacht, dass ihr Bruder in einem der Türme sein könnte. Erst drei Wochen später rief sie ihre Mutter an und erfuhr, dass er vermisst wurde.
    Als sie eine Woche darauf in New York den Nachlass seines unvollendeten Lebens ordnete, kam die offizielle Einberufung. Ihr blieben drei Tage, um zu packen und alles zu regeln, bevor sie sich zum Dienst melden musste. Zwei Monate später wartete sie auf dem eisigen Asphalt des Luftwaffenstützpunkts K-2 in Karshi-Khanabad auf die C-130, die sie und das übrige Verhörteam nach Kandahar bringen sollte.

 
Virginia
    Kat trat die Haustür hinter sich zu und griff nach dem Telefon, ohne aufs Display zu achten.
    »Hallo?«
    Stuarts Stimme war Colins so ähnlich, der Akzent des schottischen Tieflands so leicht zu verwechseln, dass Kat einen Augenblick glaubte, alles sei gut.
    »Colin?«
    Er zögerte, dann sagte er: »Nein, hier ist Stu.«
    »Was ist los?«
    »Colin. Es tut mir so leid, Katy.«
    Sie wusste sofort, dass sie recht gehabt hatte. »Wie ist es passiert?«
    Stuart hielt inne und rang hörbar um Fassung. »Eine Überdosis. Morphiumsulfat. Das Zeug, das er für seinen Arm bekam. Man fand ihn vor zwei Tagen in einer Kneipentoilette auf dem Bahnhof King’s Cross.«
    »Also war es ein Unfall?«
    »Nein, Katy. Ich weiß zwar nichts Genaues, aber das Medikament besaß offenkundig eine Depotwirkung. Er muss die Dosis irgendwie erhöht haben, hat das Zeug vermutlich in seinen Drink gemischt.« Wieder eine Pause, wieder unterdrückte er ein Schluchzen.
    Kat sagte nichts. Sie wusste, dass Colin unglücklich gewesen war. Er ertrug den Verlust seines Armes nur schwer, doch es war inzwischen drei Jahre her, und bei den letzten Gesprächen hatte sie gespürt, dass er auf dem Weg der Besserung war.
    Gewiss, Stuarts Prozess stand bevor. Man gab ihm die Schuld am Tod eines Bagram-Häftlings. Colin hatte als einziges anderes Teammitglied den Tod des Mannes mit angesehen und hätte im Militärgerichtsverfahren gegen seinen Freund aussagen müssen. Andererseits wussten alle, dass das Verfahren reine Formsache war. Der Mann war Asthmatiker gewesen, was Stuart nicht hatte wissen können, und war während des Verhörs seiner Krankheit erlegen. Colins Aussage hätte Stuart höchstens entlastet.
    »Steht das fest?«, wollte Kat wissen.
    Sie war wie betäubt, als hätte sie ihren Körper verlassen und stünde neben sich. Mit einem Unfall hätte sie leben können. Einem Sturz beim Bergsteigen in den Cuillins, einem Verkehrsunfall mit seinem alten Triumph, weil er sich beweisen wollte, dass er noch derselbe Mensch wie vor al-Amir war. Damit hatte sie jedoch nicht gerechnet. Es war eine Entscheidung, die ganz und gar nicht zu dem Menschen passte, den sie gekannt und geliebt hatte.
    Stuart räusperte sich. »Er hat gewusst, was er tat.«
    Sie schwiegen beide, und einen Moment lang glaubte Kat, Stuart würde weinen.
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