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Vergiss mein nicht

Vergiss mein nicht

Titel: Vergiss mein nicht
Autoren: Karin Slaughter
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sein wollte, weil ich nicht wissen wollte, was geschehen war.
    Und wenn er dann zu mir kam…«, flüsterte sie. » Wenn er wieder in den Raum zurückkam und ich nicht mehr allein war…«
    Lena musste aufhören, weil sie zu hyperventilieren begonnen hätte, wenn sie ihre Atmung nicht unter Kontrolle brächte. Sie betrachtete Marks Hand und berührte mit den Fingerkuppen die Tätowierung.
    Seine Beichte brach wieder über Lena herein, und sie konnte jetzt hören, was sie vor kurzem im Trailer nicht hatte hören wollen. Über das Verbrechen, das an ihm begangen worden war, hatte er wie ein Liebender gesprochen, der sich an einen besonders leidenschaftlichen Augenblick erinnert. Nachdem Lena seine Worte wieder und wieder im Kopf abgespult hatte, verstand sie schließlich, warum er sich mit der Tätowierung gebrandmarkt hatte. Sie kannte das Schuldgefühl, das Mark mit sich herumschleppte wie einen Amboss, den man an sein Herz geschmiedet hatte. Ein Teil von ihm würde immer Sohn seiner Mutter bleiben. Ein Teil von ihm würde immer in jenem Trailer sein und Musik hören, bis seine Mutter hereinkam und ihn vergewaltigte. Ein Teil von ihm würde sich immer daran erinnern, was für ein gutes Gefühl es gewesen war, wenn auch nur für einen kurzen Moment, in sie eingedrungen zu sein, sie zu ficken. Wohin er auch ging oder was er tat, Mark trug das Brandmal in sich. Die Tätowierung sorgte nur dafür, dass andere es ebenfalls sahen. Die Tätowierung war Marks Art, den Menschen zu sagen, dass er nicht zu ihnen gehörte, sondern immer nur zu seiner Mutter. Was sie getan hatte, hatte sein Innerstes gezeichnet, wie es Nadel und Tinte auf seiner Haut nie tun konnten.
    Für den Rest seines Lebens und vielleicht auch in diesem Moment, gefangen in seinem Körper, barg Mark in sich das Wissen, dass er dabei Lust empfunden hatte. Für ebenjenen kurzen Moment war er der Liebling seiner Mutter gewesen, hatte er das, was er für Liebe hielt, zum ersten Mal erlebt. Auf ihre kranke und perverse Weise hatte Grace Patterson ihrem Sohn zum ersten Mal in seinem Leben das Gefühl gegeben, geliebt zu werden, und er hatte sie dafür wiedergeliebt, obwohl er sie gleichzeitig dafür gehasst hatte, dass sie ihm etwas so Schlimmes antat.
    Bis auf die Geräusche der Maschinen und das Pulsieren des Bluts in Lenas Ohren war es im Krankenzimmer still. Sie hörte ein hohes Winseln, aber sie wusste, dass es nur in ihrem Kopf existierte. Sie wollte aufstehen, Mark loslassen und ihn in seinem Bett sterben lassen.
    Doch sie hatte es bis hierher geschafft. Niemand war da, der ihr Einhalt geboten hätte, niemand, der sich dem Wahnsinn ihres Geständnisses widersetzt hätte. Nur Lena befand sich in diesem Zimmer, und wenn Mark doch noch da war, wenn er wirklich hier bei ihr war und hören konnte, was sie sagte, dann war er wahrscheinlich der einzige Mensch auf der Welt, der verstehen konnte, was sie sagte.
    » Ich war so einsam, wenn er mich verließ«, sagte Lena. Ihre Stimme war nur noch ein heiseres Flüstern, als sie sich zwang, gedanklich an jenen grauenvollen Ort zurückzukehren. Sie biss die Zähne zusammen, wusste nicht, ob sie es schaffen würde. Es war dieser Teil, der sie jedes Mal wieder umbrachte, der Grund, warum sie niemals in eine Therapie gehen oder irgendeinem Menschen erzählen würde, was vor vier Monaten in jenem Raum wirklich geschehen war.
    » Wenn er zurückkam– zurück in den Raum– und ich nicht mehr allein war…« Lena schwieg. Sie schluchzte. Sie konnte es nicht aussprechen. Sie konnte es nicht über sich bringen, es jemandem zu gestehen, nicht einmal Mark, nicht einmal dieser scheinbar leblosen Hülle, die eigentlich gar nicht mehr Mark war. Sie war nicht stark genug. Sie konnte einfach nicht.
    » Scheiße«, schrie Lena, mit aller Kraft bemüht, nicht zusammenzubrechen. Ihr Körper bebte, und bald war sie nur noch ein schluchzendes Häufchen Elend. Sollte Mark noch etwas spüren können, würde er spüren, dass ihre Hände zitterten und dass Angst ihren Körper gepackt hatte. Wie niemand anders würde er den Schmerz verstehen, der sie tief im Innern quälte. Mit Pillen wäre dieser Schmerz niemals zu vertreiben. Nicht einmal ein Geschoss, das ihr Hirn durchbohrte, würde diese Erfahrung auslöschen können, und Lena wusste, dass selbst wenn es ihr gelänge, den Abzug zu drücken oder all diese Tabletten zu schlucken, sogar dann würden ihre letzten Gedanken bei ihm sein.
    » Nein«, sagte Lena und schüttelte heftig den Kopf. »
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