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Verführerische Unschuld

Verführerische Unschuld

Titel: Verführerische Unschuld
Autoren: CHRISTINE MERRILL
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fand ihre Jugend erwähnenswert. Sehr schlecht. Angestrengt lauschte sie, um etwas über den Mann zu erfahren, dessen Stimme zu ihr hinaufdrang, doch der Tonfall sagte nicht viel aus, wenn auch der Klang ihr nicht gefiel. Als er über ihr Bildnis sprach, hatte nicht Leidenschaft, sondern nur kühles Urteil darin gelegen, so, als wählte er ein Möbelstück aus und nicht eine Braut.
    „Sie wird von Ihrem Antrag geehrt sein, Lord Halverston.“
    Ein Lord also. Natürlich. Ihr Vater wünschte, dass sie durch die Heirat ihre gesellschaftliche Position verbesserte. Aber was bedeutete ihr der gesellschaftliche Rang, wenn ihr zukünftiger Gatte nicht ihr Herz erobern konnte?
    Die Stimmen wurden wieder lauter. „… und gehorsam, sagen Sie? Heutzutage sind die Mädchen viel zu eigenwillig, was ich meiner zukünftigen Gemahlin nicht durchgehen lassen werde.“ Ein gehässiger Redestrom über die verworfene Jugend, besonders die weibliche, quoll aus ihm hervor, wobei er angesichts dieses Themas erregt die Stimme hob, sodass Esme seine Aufzählung der zahlreichen Fehler potenzieller Bräute voll und ganz mitbekam.
    Das Herz sank ihr in der Brust.
    „Ich bin sicher, dass Esme Sie nicht enttäuschen wird. Sie kennt Ihre Pflicht.“ Das war ihr Vater.
    „Oder wird sie früh genug kennenlernen“, entgegnete Halverston.
    Beide Männer lachten.
    Mit schmerzhaft pochendem Herzen erhob Esme sich. Sie würde sich nicht wehren können. Ganz selbstverständlich wählte ihr Vater einen Gatten für sie, und er würde einen ihm gleichgesinnten wählen. Einen Mann, der die Faust für das richtige Mittel hielt, Pflichten nachdrücklich einzuprägen, und der fand, dass nichts das Gedächtnis einer ungehorsamen Tochter oder eines widerspenstigen Weibes besser auffrischte als Schläge mit dem Riemen.
    Sie krallte die Finger in den Kaminsims und atmete tief durch. Vielleicht klang ja alles schlimmer, als es war. Sie durfte Lord Halverston nicht verurteilen, ohne mit ihm zusammengetroffen zu sein. Aus dem wenigen, das sie mitgehört hatte, durfte sie nicht zu viel schließen.
    Anscheinend waren die beiden Männer zu einer Übereinkunft gekommen, sie schienen sich in die Halle zu begeben.
    Rasch streifte Esme die Asche von ihrem Rock und eilte auf den Balkon hinaus, wo sie sich an die Wand drückte, um von der Straße aus nicht gesehen zu werden. Der Mann musste jeden Moment aus dem Portal treten, dann würde sie einen Blick auf ihn erhaschen können. Vor dem Haus wartete schon seine Kutsche. Esme bewunderte die perfekt zusammenpassenden Braunen und deren mit Silber beschlagenes Zaumzeug. Auch die Chaise selbst war prächtig und trug ein Wappen auf dem Wagenschlag. Ihr zukünftiger Gatte musste reich sein. Und sie würde an seinem Reichtum teilhaben. Also wäre sie nicht ganz schlecht dran. Sie würde schöne Kleider und Schmuck und ein imposantes Haus haben. Mehrere Häuser vielleicht gar.
    Sie hörte, wie die Tür geschlossen wurde. Der Kutscher und die Lakaien nahmen Haltung an, als ihr Herr erschien. Aus Respekt, hoffte sie, nicht aus Furcht vor Strafe. Du wirst Bedienstete haben, sagte Esme sich. Vielleicht eine Zofe, die ihr gehorchte und nicht, wie hier, ihrem Vater.
    Sie nagte an ihrer Unterlippe. Das war alles gut und schön. Aber war es zu viel verlangt zu hoffen, dass ihr Gemahl nicht nur wohlsituiert war, sondern auch zartfühlend und nett? Sie verdrängte den Gedanken; sie wollte sich nicht von den wenigen Gesprächsfetzen beeinflussen lassen.
    Jetzt ging der Mann über den Gehsteig zur Kutsche. Rasch trat sie näher an das Geländer, um ihn besser sehen zu können.
    Er war alt! Seine gebeugten Schultern sprachen eine deutliche Sprache. Zwar ging er festen Schrittes, doch steif und abgezirkelt, und er war groß von Statur, aber unnatürlich dünn, wie von einer zehrenden Krankheit gezeichnet. Die Hand, die den Spazierstock hielt, glich mit ihren knochigen gekrümmten Fingern eher einer Klaue.
    Esme unterdrückte ihre Enttäuschung. Wie töricht sie gewesen war, auf einen jungen Mann zu hoffen!
    Aber wenn er so alt war, wie er wirkte … ihr schauderte bei dem Gedanken, dass er des Nachts zu ihr kommen würde. Fast konnte sie fühlen, wie die knochigen, vom Alter gekrümmten Hände sich in ihr Haar gruben und über ihre nackte Haut glitten. Er war sogar älter als ihr Vater. Sie könnte bald Witwe sein.
    Wie entsetzlich, so etwas auch nur zu denken. Vielleicht war sie wirklich schlecht, und ihr Vater strafte sie ja zu Recht
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