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Verflixte Hühnersuppe (German Edition)

Verflixte Hühnersuppe (German Edition)

Titel: Verflixte Hühnersuppe (German Edition)
Autoren: Veronika Aretz
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sich als meine Mutter ausgibt. Inzwischen ist sie allerdings schon 66 Jahre alt und du kannst dir vorstellen, dass es immer schwieriger wird, so zu tun, als sei ich ihre Tochter.
    Schnell dränge ich durchs Foyer in die Eingangshalle und entdecke das Sekretariat. Roswitha Jennings, die Sekretärin, mustert mich wie einen Fisch, der das schützende Wasser verlassen hat. Sie will mich gleich mitsamt der nassen Jacke an eine Wäscheleine klemmen.
    „Das muss ein Tippfehler sein!“, murmelt sie zum x-ten Mal. Sie hält das Papier ins Licht, das ich vor langer Zeit vom Schulamt in Ober-Kleinkachingen bekommen habe. Es ist mit Flecken und Knitterfalten übersät, sodass man eigentlich schon nichts mehr lesen kann. „Es ist ziemlich verdreckt. Hast du es im Regen liegen lassen?“
    „Nein“, sage ich schnell, „es ist …“
    „Wie alt bist du?“, fährt sie dazwischen, ohne auf meine Worte zu achten.
    „Zwölf, aber ich …“
    „Das werden wir gleich haben!“
    Kurzentschlossen klopft sie an eine Zimmertür, an der das Schild „Dr. Dr. H. M. Steinkaul – Schulleiter“ angebracht ist, und sie verschwindet darin, ohne auf meine Proteste zu reagieren.
    Einen Augenblick später steht sie schon wieder vor mir. „Wir schicken dich in die 6c, da bist du mit Sicherheit besser aufgehoben als …“
    „Aber ich muss in die neunte Klasse!“, protestiere ich und gestikuliere mit den Händen wild in der Luft herum, als könnte ich ihr damit die Größe meiner Weisheit zeigen. „Auf dem Papier steht’s doch! Ich hab wirklich drei Schuljahre übersprungen!“
    Ich spüre schon die Hühnersuppe in mir aufsteigen. Stell dir vor, du hättest schon zehn Mal die sechste Klasse hinter dir und die siebte und achte mindestens genauso oft – hättest du Lust, immer wieder von vorn zu beginnen?
    Dr. Dr. H. M. Steinkaul erscheint im Türrahmen. Das heißt, ich sehe zuerst nur eine schwarze Stoffhose und zwei Arme, die einen Stapel Bücher tragen. Der Rest seines Körpers ist vollständig verdeckt, bis auf die grauen Haare vielleicht.
    Roswitha Jennings stößt einen spitzen Schrei aus, als sie den wandelnden Bücherberg sieht.
    „Wie oft soll ich Ihnen noch sagen“, schimpft sie mit mütterlichem Vorwurf, „dass Sie mich nur zu rufen brauchen?! Das ist viel zu schwer für Sie!“
    Sie nimmt ihm einen Teil der Wälzer ab. Zum Vorschein kommen verschmitzt dreinschauende Augen und eine Nase, die an eine krumme Mohrrübe erinnert.
    Der lächelnde Mund darunter murmelt: „Lassen Sie nur, Roswitha! Sie wissen doch, ich habe meinen Dickkopf.“ Dann folgt er der Sekretärin unbeholfen.
    Sie laden die Bände auf dem Schreibtisch ab und ich kann den obersten Titel erkennen: „Astrophysik: Neueste Erscheinungen am Himmel“
    Überrascht lasse ich die Hände sinken, die ich in meiner Verzweiflung noch immer erhoben habe. Noch nie in den 37 Jahren habe ich jemanden getroffen, der sich für Astronomie interessiert.
    „Warum bist du noch nicht in deiner Klasse?“, fragt Steinkaul mit einem forschenden Blick auf mich.
    Ich starre ihn an. Der Schulleiter ist mir vom ersten Moment an sympathisch, aber seine neugierigen Augen scheinen direkt in meinen Kopf hineinzusehen. Ich muss mega-vorsichtig sein.
    „Das Mädchen behauptet, drei Klassen übersprungen zu haben“, kommt mir die Sekretärin zuvor. „In dem Brief des Schulamts steht, dass sie in die neunte Klasse versetzt wird. Das kann ja wohl kaum stimmen …“
    „Die Schule für Hochbegabte ist in Oohlenberg“, sagt Steinkaul. Er rückt seine Brille auf der Rübennase zurecht und hält sich das Schreiben vom Schulamt vor die Augen. „Aha, hier steht: Schulabschluss – das Nächste ist leider nur schwer zu erkennen – achte Klasse? Aber hier! Einer Versetzung in die neunte Klasse steht nichts im Wege.“ Er lässt das Blatt sinken und mustert mich.
    „Ich bin nicht hochbegabt!“, sage ich schnell. „Ich lese viel und beobachte gern.“
    Er lächelt und wiegt den Kopf hin und her. „Nun ja, die Neuntklässler sind deutlich älter als du. Die spielen nicht mehr Nachlaufen, da langweilst du dich sicher.“
    Nun höre sich das einer an! Am liebsten würde ich über den Tresen springen und ihn mit seinen albernen Büchern steinigen – bis auf das eine über die Astrophysik natürlich. Er hat ja keine Ahnung! Vor 37 Jahren habe ich aufgehört, Nachlaufen zu spielen! Meine Kindheit war mit einem Fingerschnipsen beendet, als ich von meiner Heimatwelt so Hoppla-hop fliehen musste!
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