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Vereister Sommer

Vereister Sommer

Titel: Vereister Sommer
Autoren: Ulrich Schacht
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weder in Form eines Verdachts noch auch nur einer Idee davon. Es gab Verhöre, man hatte Fingerabdrücke genommen. Am Ende verlief sich die Sache im Sande, und als sie den Ermittler danach zufällig wieder traf, auf dem Weg zum Marktplatz, und er zunächst auch nicht abgeneigt schien, ein Wort mit ihr zu wechseln, konnte sie ihr loses Mundwerk nicht halten und fragte mit leichtem Spott in der Stimme: »Na, Herr Bernhardt, hat sich die Sache erledigt? Oder haben Sie was davon abgekriegt?« Doch der Kriminalkommissar war daraufhin, schnellen Schrittes und ohne noch ein weiteres Wort zu verlieren, fortgeeilt. Nun stand er plötzlich wieder vor ihr und fragte sie höflich, ob sie das Fräulein Schacht sei? Als sie bejahte, fragte er auch nach ihrem Vornamen, es gäbe ja zwei davon in der Familie? Sie nannte ihn, ohne zu zögern, doch der Kriminalpolizist entschuldigte sich überraschenderweise für einen Moment und sagte, er müsse noch einmal kurz weg, wäre aber gleich wieder da. Er blieb tatsächlich nicht lange fort, und als er zurück war, bat er sie so freundlich wie zuvor, doch bitte mit ihm zu kommen, es ginge um eine Aussage in |25| einer bestimmten Angelegenheit. Im selben Moment kam Kätchen, ihre ältere Schwester, das andere bisherige Fräulein Schacht, ins Haus, sie hatte zehn Tage zuvor geheiratet, den Tischler Karl-Friedrich Mäker aus der Nachbarschaft, und wollte stolz die gerade fertig gewordenen Hochzeitsphotos zeigen. Es war keine kirchliche Hochzeit gewesen, aber man war mit der Droschke vorgefahren, und die halbe Straße hatte Spalier gestanden, das ganze Haus mitgefeiert. Sie selbst hatte auf dem Fest die neuen schwarzen Pumps mit den grünen Schleifen eingetanzt, ein Geschenk ihres russischen Freundes Wladimir. Während die Schwester ins Wohnzimmer ging, fragte sie den Kriminalkommissar, ob sie ihre Tochter nicht mitnehmen könne? »Aber nein«, beruhigte sie der Kommissar, »lassen Sie sie mal lieber hier, das ist wirklich nicht nötig, es dauert doch höchstens zehn Minuten!« Zwar passte ihr die überraschende Störung im Tagesablauf überhaupt nicht ins Konzept, aber wahrscheinlich ging es immer noch um die alte Sache, den blöden Schnapsklau, wie lächerlich! Also übergab sie der Schwester das Kind, zog sich nicht einmal einen Mantel über, es war ja Sommer und warm, sagte zu Schwester und Tochter: »Bis gleich«, und folgte dem Beamten, der ihr sogar noch die Tür aufhielt. Vor dem Haus wunderte sie sich, dass der Kriminalkommissar nicht den kürzesten Weg zum Volkspolizeikreisamt einschlug, sondern offenbar einen längeren bevorzugte, einen Umweg durch die Hauptstraße der Stadt. Als sie ihn darauf aufmerksam machte, gab er eine undeutliche Antwort und dirigierte sie plötzlich völlig überraschend in den
Badstaven
, eine winzige Seitenstraße, an deren Ende ein großer roter Backsteinbau stand, ihre ehemalige Volksschule, die noch vor wenigen Jahren den Namen Hitlers getragen hatte, nach dem Krieg wurde sie in Pestalozzi-Schule umbenannt. Dort sah sie, bezog es aber noch immer nicht auf sich, eine dunkle Limousine mit verhängten Fenstern stehen, nur das Geräusch des laufenden Motors schien ihr ungewöhnlich, aber auch das wurde ihr erst nachträglich bewusst. Zielstrebig |26| führte der deutsche Polizeibeamte die zum kurzen Gespräch Gebetene nun auf den Wagen zu, dessen hintere Tür in dem Moment aufsprang, als dem Fahrzeug nicht mehr auszuweichen war. Ein Mann in sowjetischer Uniform federte heraus, ebenso behende trat er zurück, die weit geöffnete Tür mit der linken Hand fest im Griff. Wortlos übergab der deutsche Polizist dem russischen Geheimdienstoffizier vom MGB die junge Frau, um danach eiligen Schrittes im Gassenlabyrinth der alten Hafenstadt zu verschwinden, in der sie am 9. September 1927 geboren und ihr Vater, ein Seemann, im Frühjahr 1939, kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, viel zu früh, verstorben und begraben worden war. Aber auch er hätte ihr jetzt nicht mehr helfen können, so wenig wie ihre Mutter, die noch an ihrem Arbeitsplatz im örtlichen Kirchensteueramt war. Niemand hätte ihr helfen können in diesem Moment. Der MGB-Mann schob sie ohne ein Wort zu sagen, doch mit unnachgiebigem Druck, in den Fond des Wagens, wo ein weiterer Uniformierter saß, auch der Platz neben dem Fahrer war mit einem Mann in Uniform besetzt. Dann stieg er wieder ein, so dass sie jetzt eingekeilt zwischen ihnen zu sitzen kam, zog mit schnellem Griff die Wagentür zu, der
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