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Vereister Sommer

Vereister Sommer

Titel: Vereister Sommer
Autoren: Ulrich Schacht
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Motor heulte auf, und die geheimnisvolle Limousine, deren Seiten- und Rückfenster verhängt waren, fuhr unaufhaltsam und mit steigendem Tempo davon.
    Vier Monate später, am Heiligen Abend des schrecklichen Jahres, erhielt ihre Familie das erste persönliche Lebenszeichen von ihr. Sie hatte es am 20. Dezember abgeben dürfen, fünfzehn kurze Zeilen, mit Bleistift geschrieben, auf einem Briefbogen, Format DIN A5. Dass diesen Brief, der aus dem Frauengefängnis Hoheneck in Stollberg im Erzgebirge kam, im Unterschied zu den noch vielen folgenden, die alle mit ruhiger Hand geöffnet worden zu sein schienen, offenbar zitternde Hände aufgerissen hatten – zwei blaue 12-Pfennig-Briefmarken mit dem Porträt Max Plancks, das Porto, waren dabei halbiert worden, die Ränder des Blattes zerfetzt –, registrierte |27| sie erst Jahre später, als sie das leicht vergilbte Bündel Briefe im Nachlass der Mutter entdeckte:
     
    Liebe Mutti, mein Dorlekind! Endlich, endlich kann ich Euch die erste Nachricht geben und sagen, daß es mir noch gut geht. Ich hoffe auch, daß zu Hause alles wohlauf ist. Was macht mein Dorle und Neina? Bekommt keinen Schreck, aber Dorle wird im März ein Schwester- oder Brüderlein haben. Mach Dir um nichts Sorgen, wir tragen alle unser Los tapfer und der Herrgott wird uns schon zur rechten Zeit ein Wiedersehen schenken. Sei nur nicht mehr böse, daß ich nicht auf Dich gehört habe, ich habe es schon mehr als genug bereut. Ihr dürft mir jeden Monat 1 Brief mit 15 Zeilen und 1 Paket von 2 Kilo schicken mit Lebensmitteln. Appetit habe ich auf alles, und dann bitte ich um Kämmchen und Zahnpasta. Nun Euch allen ein gesundes Fest und »neues Jahr«. Eure Wendi
     
    Nur einmal wurde ihr Blick zurück unterbrochen, als der Zugkontrolleur kam und um die Fahrkarte bat. Er sah nicht lange auf den merkwürdigen Fahrschein, den die junge Frau ihm entgegengereicht hatte, aber er machte, als er ihn wieder zurückgab, ein besonders freundliches Gesicht, wünschte eine gute Heimreise und schloss behutsam die Coupétür. Der gleichmäßige Rhythmus des D-Zuges versetzte sie in einen unwirklichen Zustand zwischen Überwachheit und Tiefschlaf, aus dem sie immer wieder auffuhr, in den sie immer wieder zurücksank, umschwirrt von Bildfetzen und ganzen Szenenfolgen, die weit Zurückliegendes zum Vorschein brachten oder erst vor wenigen Tagen Geschehenes überscharf wieder ins Bewusstsein hoben.
    Nein, sie lag nicht mehr mit abklingender schwerer Angina im frischbezogenen Bett auf der Veranda des Krankenhauses in der Johnsdorfer Straße der Stadt Stollberg im Erzgebirge, umsorgt von Menschen, die es gut meinten mit ihr und den anderen im provisorischen Krankensaal untergebrachten |28| ehemaligen Häftlingen. Auch von dort war sie inzwischen entlassen worden, medizinisch versorgt und mit einer »Ärztlichen Bescheinigung« ausgestattet, die nicht nur den viertägigen Aufenthalt bestätigte, vermerkt und abgezeichnet für jede zukünftig zuständige Behörde hatte die Assistenz-Ärztin der inneren Abteilung, eine Frau Dr. Halank, auch noch, dass ihre Patientin »mit 14 Tagen Schonung entlassen« worden sei. Am unteren Rand des Krankenhaus-Briefbogens, linksbündig aufgedruckt, prangte das offizielle Zeichen für den ersten Fünfjahresplan des neuen Staates, zum Gesetz gemacht mit dem Charakter einer Anweisung zur Fronarbeit am 11. November 1951, die sie beide, Staat und Plan, bislang fast nur aus der Perspektive eines politischen Häftlings erlebt hatte. Noch weniger aber lag sie, wie vor Tagen, die eine Ewigkeit her zu sein schienen, apathisch in einer Einzelzelle des Krankenreviers des größten Frauengefängnisses dieses Staates, deren schwere Tür jedoch weder abgeschlossen noch verriegelt werden durfte. Das signalisierte ein großes, mit weißer Farbe aufgemaltes Kreuz, weil der jeweilige Häftling dahinter, so die Bedeutung des Zeichens, lebensbedrohlich erkrankt war und der Arzt oder die Schwestern jederzeit Zutritt haben mussten. Doppelt hilflos und von hohem Fieber gequält, hatte sie dennoch mitbekommen, dass die Entlassungen, von deren Bevorstehen sie seit Tagen wussten, begonnen hatten, aber keine Verantwortliche vom Wachpersonal war bislang an ihr Bett gekommen, um ihr mitzuteilen, dass auch sie unter die Amnestie falle, die sie alle dem immer noch das öffentliche Bewusstsein beherrschenden Tod Stalins zuschoben, weil sie nicht wussten, dass der wahre Grund ihres Glücks einer politischen Geste geschuldet war,
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