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Vereister Sommer

Vereister Sommer

Titel: Vereister Sommer
Autoren: Ulrich Schacht
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Jahrzehnten, die wir dann in der DDR lebten, eine Suche nach meinem Vater nicht betrieben. Die Dinge waren nicht nur aussichtslos, meine Mutter fand es auch viel zu gefährlich, daran zu rühren. Dennoch haben wir uns in all den Jahren hin und wieder über meinen Vater unterhalten, und schon frühzeitig teilte sie mir alles über ihn mit, was sie wußte: Namen, Geburtsjahr, Dienstgrad. Vor mir entstand ein Bild des 1925 geborenen russischen Offiziers mit Namen Wladimir Jegorowitsch Fedotow – eines Leutnants zu jenem Zeitpunkt, den die Zeitumstände in eine katastrophale Situation gebracht hatten, die ihn in Rußland und meine Mutter im Gefängnis verschwinden ließen. Meiner Mutter wurde 1950 auch mitgeteilt, daß Wolodja »25 Jahre Sibirien« bekommen hätte, aber als er ihr gegenüberstand, hatte er noch seine komplette Uniform an. Das machte sie fortan skeptisch; dennoch sprach sie nie schlecht über den Mann, der mein Vater ist, enttäuscht schon eher. Wenige Jahre nach dem Fall der Mauer lernte ich den russischen Journalisten Konstantin Issakow kennen. Ich erzählte ihm meine Lebensgeschichte. Sie beeindruckte ihn so sehr, daß er nicht nur einen Artikel in der Zeitschrift »Neue Zeit« darüber schrieb; er bot mir auch an, in Rußland nach meinem Vater zu suchen. Mit seiner Hilfe bin ich
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nun auf einen Mann gestoßen, der mein Vater sein könnte, denn sein Name und alle Daten stimmen mit jenen Fakten überein, die meine Mutter und ich seit Jahrzehnten kennen. Dieser Mann sind aller Wahrscheinlichkeit nach Sie; aber wie ich höre, wollen Sie es nicht sein! Lieber Wladimir Jegorowitsch, glauben Sie mir: Ich habe fast volles Verständnis für eine solche erste Reaktion – fast! Denn ich glaube, daß es fast normal ist, im Rahmen der geschichtlichen, politischen und menschlichen Umstände, denen Sie seit 1950 ausgeliefert waren, in denen Sie lebten, eine Geschichte wie diese zu vergessen oder auch zu verdrängen. Ich weiß dabei nicht, ob das Motiv des Verdrängens eher identisch ist mit objektiver Angst oder mit subjektivem Schuldbewußtsein – aber ich weiß, daß der Mann, den ich suche und mit Ihnen glaube, gefunden zu haben, keine Angst zu haben braucht vor dem Mann, der sein Sohn sein könnte – denn es gibt nichts zu richten in diesem Fall von Vatersuche, sondern zuerst und zuletzt nur zu erkennen, zu verstehen und, ja, vielleicht auch zu verzeihen! Anders verhält es sich im Zusammenhang mit meiner Mutter: Sie hätte von dem Mann, der der Vater ihres Sohns ist, gewiß zu Recht mehr zu erwarten an Erklärungen als der Sohn! Aber auch davor bräuchten Sie, lieber Wladimir Jegorowitsch, so Sie denn mein Vater sein sollten, keine Furcht zu haben: Ein belastetes Gewissen, das sich demjenigen gegenüber, an dem es vielleicht oder tatsächlich schuldig geworden ist, öffnet, wird sich entlastet fühlen und auch fühlen dürfen. Lieber Wladimir Jegorowitsch, ich weiß, daß es nicht leicht ist, den Schritt zu vollziehen, um den es mir geht – aber ich denke, daß es bei allem nicht nur um mich oder meine Mutter geht. Ich denke, es geht auch um Sie – um Ihre Ehre und Würde: Begriffe, die heute aus der Mode gekommen zu sein scheinen. Mir aber, und auch meiner Mutter, haben sie immer viel bedeutet: Unser beider bisheriges Leben ist jedenfalls nachhaltig von dem Versuch geprägt, unsere Würde, unsere Menschen-Würde, unter allen Umständen, so würdelos sie auch sein mochten, zu verteidigen und so zu bewahren! Meine Mutter hat das in ihrer Gefängniszeit bewiesen, und das hat mir die Kraft
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gegeben, es ihr in meiner Gefängniszeit von 1973 bis 1976 als politischer Häftling in der DDR nachzutun. Sie und ich, lieber Wladimir Jegorowitsch, sollten uns deshalb treffen und miteinander reden. Sie hätten nichts davon zu befürchten; aber vielleicht vieles zu gewinnen! Lassen Sie mich deshalb diesen Brief mit dem Schluß eines Briefes Iwan Turgenjews, meines russischen Lieblingsautoren, an einen seiner französischen Bekannten beenden:
»Wir werden uns über all das bei unserem nächsten Zusammentreffen unterhalten, nehmen Sie einstweilen die Versicherung meiner besten Gesinnung entgegen.«
    Herzlich: Ihr Ulrich Schacht
     
    Slavik, wenn du wüsstest, was mir gerade durch den Kopf geht, ach, was denke ich: wirbelt, müsste ich sagen, da du mich diesen schneeverkrusteten, leicht abschüssigen Weg hinabführst, dem in Wintertüll gehüllten Birkensaum von
Schalikowo
entgegen, so heißt das Nest doch, durch
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