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Vereister Sommer

Vereister Sommer

Titel: Vereister Sommer
Autoren: Ulrich Schacht
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das wir gerade stolpern, jenem Mann entgegen, dem ich vor ein paar Tagen einen noch in Schweden geschriebenen Brief zukommen ließ und darin ein Treffen vorgeschlagen habe, der dir vollkommen vertraut ist, mir aber, verzeih, mir ist er gänzlich fremd: ein Name, ein Datum, eine Zeitspanne, die in meinem bisherigen Leben nicht einmal so real war wie eine der vielen Sternschnuppen, die ich gesehen habe, noch jedes Mal mit einem Wunsch versehen, doch mit diesem Namen, ich weiß nicht, warum nicht, verband sich keiner. Kein Quäntchen Sehnsucht quälte mich, wenn ich ihn, selten genug, auszusprechen versuchte, keine unstillbare Neugier, wie es dem Menschen, der sich dahinter verbarg, wohl ergangen sein mochte, kein Gesicht, in dem ich mich spiegeln wollte. Nicht einmal egal war er mir. Er war nur nicht da, nie, und blieb bis vor nicht allzu langer Zeit unverändert das, was er so lange war: eine abstrakte Buchstabenreihe. Bildlos, es gab kein Bild von ihm. Stimmlos, nie habe ich ihn sprechen gehört. Reine Behauptung: aus dem Mund meiner Mutter, die nicht die deine ist. Und doch hältst |14| du mich auf diesem rutschigen und abschüssigen Weg ans Ziel mit deinem Arm wie einen Bruder, mein Bruder.
     
    Vor zwei Stunden haben wir uns, das Filmteam aus den Niederlanden, mit dem ich hier bin, Vater zu treffen, und ich in meinem Zimmer im »Rossija« versammelt, um den entscheidenden Anruf zu tätigen. Nach dem Telefonat hat Konstantin, der es für mich führte – ich spreche eure Sprache ja nicht, obwohl ich sie einmal sogar für ein paar Jahre gelernt habe, auch lesen kann ich sie, mühsam zwar und stockend, aber immerhin, doch eben nicht so sprechen, wie es jetzt nötig wäre –, Konstantin hat einen Moment lang geschwiegen und nach Worten gesucht und dabei sogar vergessen, den Telefonhörer zurück auf den Apparat zu legen, so dass man das Freizeichen hören konnte, laut und vernehmlich wie ein akustisches Signal, das etwas Großes und Wichtiges ankündigt, während er das in eurer Sprache Vernommene übersetzte in meine. Eine ganze Weile schwebte sein Arm noch in der Luft, bis er klar und deutlich, jedes Wort betonend, auf Deutsch sagte, was ihr ihm und damit mir endlich mitzuteilen wünschtet: dass ihr bereit wäret zu einem Treffen zwischen uns allen und euch darüber freuen würdet, dass es nun endlich so weit sei, nach fast fünfzig Jahren. Und er wiederholte: »Sie sind bereit, sehr sogar!« Aber merkwürdig: Als ich diesen klaren Satz hörte, dem eine Pause folgte, in der er nichts von seiner Klarheit verlor, wurde ich weder euphorisch, noch hat er mich erschreckt. Nur ein großes Durchatmen erfüllte mich, das einen Blick auf meine Armbanduhr begleitete und die merkwürdig lakonische Frage gebar: »Wie viel Zeit haben wir noch?« Es war wie ein Einsatzbefehl für Fallschirmjäger, deren Absprung ins Ungewisse in Kürze erfolgen sollte. Die Operation, hundertmal durchdacht, bot dennoch erhebliche Risiken, die unklar ließen, wie es letztendlich ausgehen würde. Das überfallartige Eindringen ins Seelengehäuse anderer Menschen, die bis eben noch nicht wussten, dass es dich gibt, gestern haben wir es ja |15| erlebt und gesehen, was es bewirkt, an Jurij, deinem und nun auch meinem Bruder, diesem freundlichen Mann mit der mächtigen Gestalt, der mir im ersten Moment wie ein Nachfahre von Ilja Muromez vorkam, jenem Filmhelden meiner Kindheit, der auch euch ein Begriff sein dürfte. Ganz benommen von der Tatsache meines Erscheinens in seinem und euer aller Leben, saß er auf seinem Stuhl und gestand, mit leiser Stimme, abwesendem Blick und dem wiederholten Schütteln des Kopfes: »Ich kann das alles nicht begreifen!« Er wehrte nichts ab, aber er war fassungslos. Diese Fassungslosigkeit jedoch war zugleich der Beweis, dass mein Vater, der auch der eure ist, geschwiegen hat, eisern geschwiegen, bis zur letzten Minute. Warum? Ich weiß es nicht, vielleicht wird er es einmal sagen. Euch muss er es sagen, euch vor allem. Mir nicht. Ich wusste ja immer, dass es ihn gibt, und er wusste wenigstens dies: dass seine deutsche Freundin, meine Mutter, ein Kind von ihm bekam, von ihm und niemand anderem, was immer danach geschah und wohin auch immer die beiden sich aus den Augen verloren. Aber seit einigen Jahren weiß er, nachdem Konstantin ihn in Moskau entdeckte, mit Hilfe von Oberst Nikischkin, dem Chef des Historischen Militärarchivs eurer Armee, Konstantins hilfreichem Freund, der ihn auf militärischem Wege zu sich gebeten
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