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Vereister Sommer

Vereister Sommer

Titel: Vereister Sommer
Autoren: Ulrich Schacht
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hatte, und aus den Akten in seinem Institut, dass dieses Kind wirklich ans Licht der Welt gekommen ist und es damit, neben dir und Jurij, noch einen Sohn gibt, den ältesten aller drei, die er nun und seit langem hat, im fernen Deutschland, von jener Frau, die vor vielen Jahrzehnten einen kurzen Sommer lang die seine war und es bleiben wollte für ein ganzes Leben und die für diesen natürlichsten Wunsch aller Wünsche, wenn Liebe im Spiel ist und ein Kind unterwegs, zuletzt ins Gefängnis ging. Doch vor Nikischkin und Issakow hat er bestritten, sie jemals getroffen zu haben, zugleich gab er zu, Wladimir Jegorowitsch Fedotow zu sein, geboren am 21. Dezember 1925 in einem Dorf bei Smolensk, gab zu, nach Deutschland abkommandiert und 1950 in |16| Wismar stationiert gewesen und im selben Jahr in die UdSSR zurückgekehrt zu sein. Aber wenn die Frage auf meine Mutter kam, ob er sie kenne, schüttelte er nur den Kopf und sagte:
»Nein
,
kenne ich nicht.«
Das war 1993. Dabei hatte er doch Glück im Unglück, wie ich seit einigen Tagen weiß, und musste,
als moralisch nicht gefestigte Person
, wie es in den Akten heißt, nur zurück nach Russland, das damals noch die Sowjetunion war:
in Begleitung eines Offiziers derselben Militärabteilung am 26.   10.   1950 bis zur Station Brest
. Aber von dort ging es weiter, weiter und weiter, unendlich weit weg vom Ort der »moralischen Verfehlung«, ohne Gelegenheit zum Rückfall, bis nach Tschita, hinter dem Baikalsee, im Jablonovyj-Gebirge, nahe der Grenze zur Mongolei und zu China. Das war keine Strafe, und wenn, dann die geringste von allen möglichen; aber eine Auszeichnung war es eben auch nicht.
    Es steht in
den
Akten, aus denen mir Militärjustiz-Oberst Kopalin vorgelesen hat, dieser gute Mensch von Moskau, den alle noch lebenden Opfer Stalins in Deutschland inzwischen kennen wie einen Engel mit froher Botschaft, weil er unermüdlich ihre Rehabilitierung betreibt und entsprechende Beschlüsse unterzeichnet. Sein Name steht, wie kein anderer russischer Name in diesen Jahren, für die Rückkehr der Gerechtigkeit in ihre Leben, die nie ganz frei geworden sind von der Last jener Schreckenszeit, wie sollten sie auch. Ich habe gegrübelt, schon früher, was unseren Vater zu dieser Abwehr getrieben haben könnte, vor allem aber die letzte Nacht im Hotel, kaum fand ich Schlaf, denn selbst noch in dieser Woche, da er wusste, dass wir hier sind, so gut wie vor seiner Tür, hat er auf einen Anruf von Konstantin nur abwehrend reagiert. Schuldgefühle? Skepsis, ein falscher Sohn pirsche sich da an ihn heran, ein Dimitri auf dem Wege nach Moskau, in den Kreml der Fedotows? Zuletzt sagte ich mir, Scheinrationalist, der ich auch sein kann: Eine Liebesgeschichte von nur wenigen Monaten, die zudem ein halbes Jahrhundert zurückliegt, kann die wirklich, selbst wenn sie so dramatisch endete |17| wie die meiner Mutter und jenes Offiziers, der unser Vater damals war, ein ganzes weiteres Leben besetzen wie ein alles beherrschender Okkupant? Oder war es einfach nur die Weigerung des gesunden Menschenverstandes, zu glauben, dass das absolut Unwahrscheinliche tatsächlich Wirklichkeit werden könnte? Manchmal dachte ich auch, vielleicht wirkt sich hier bloß das Phänomen des so oft zitierten russischen Fatalismus’ aus, diese Schicksalsergebenheit: Es ist, wie es ist, und war, wie es war?! Diese Apathie den Schrecknissen des Lebens gegenüber, die einem andere bereiten, Stärkere, Mächtigere. Der Totstellreflex als Überlebensstrategie.
Ein
Leben hat man ja nur; man hat wirklich nur
eins
. Hier. Ist Vergessen deshalb nicht die größte aller Tugenden, wenn es darum geht, zu überstehen, was nur überwältigen will? Einfach weiterzuleben, auf dem Floß der Medusa, bis endlich wieder Land in Sicht ist, Überlebensgelände, selbst wenn es bloß der alte Grund ist, auf den wir zuletzt erneut geworfen werden? Nein, ich blicke nicht zornig auf diese Ausweichbewegungen vor mir, nicht einmal bitter oder auch nur irritiert; eher wie auf eine schwierige Aufgabe, die gelöst werden muss. Früher musste sie das nicht für mich; die drei Frauen, die mein Leben geprägt haben, Mutter, Großmutter, Schwester, waren stark genug, mich das Fehlende nicht als Verlust spüren zu lassen. Doch seitdem ich wusste, dass unser Vater noch lebt, packte mich eine elementare Neugier, auch auf ihn, natürlich, vor allem aber auf mich: Ihn zu treffen, tot oder lebendig, würde das Spiegelbild meiner Existenz
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