Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vereister Sommer

Vereister Sommer

Titel: Vereister Sommer
Autoren: Ulrich Schacht
Vom Netzwerk:
vervollständigen. Bisher hat es mich nur zur Hälfte gezeigt, die andere Hälfte blieb schwarz. Aber jetzt, gestern, heute, morgen, ganz allmählich und rasend schnell zugleich, beginnt der dunkle Teil sich zu lichten, heller zu werden mit jeder Stunde, ich sehe meine Umrisse, wie sie sich vervollständigen, ein Fragment komplettieren. Gewiss, da entsteht kein gänzlich neues Bild von mir, aber nun wird es ein ganzes. Es ist dieses Ziel, das mich hierhergetrieben hat, auf diesen Dorfweg westlich von Moskau. Einem Haus entgegen, |18| das ein spätes Vaterhaus genannt werden könnte. Aber das liegt nicht allein an mir. Was mag jetzt in deinem Kopf vor sich gehen, der du mich tapfer stützt und brüderlich führst, und erst recht im Kopf desjenigen, der uns unaufhaltsam auf sich zukommen sieht?
     
    22. Januar 1954
    In den ersten Wochen des Jahres 1954, elf Monate nach Stalins Tod, hätte ein Mensch mit göttlichem Überblicksvermögen im deutschen Teilstaat zwischen Elbe und Oder, Ostsee und Erzgebirge ein Phänomen wahrnehmen können, das im Getriebe des grauen Alltags der Diktatur punktuell immer wieder geradezu farbenprächtig aufleuchtete, wenn man einmal absah vom omnipräsenten Propagandarot der Fahnen, Transparente und Plakate: einen Schwarm Hunderter, meist jüngerer Frauen, der sich von einem bestimmten geographischen Punkt aus im südlichen Mitteldeutschland, über Tage hinweg, zwischen dem 15. und 18. Januar, ins Land ergoss. Alle diese Frauen trugen, als sie jenen Punkt, die Kreisstadt Stollberg im Erzgebirge, verließen, einen dunkelblauen wollenen Wintermantel und um den Hals einen warmen weinroten Schal, der ihre blassen Gesichter noch auffälliger werden ließ. Sie führten kaum Gepäck bei sich, nur kleinere Beutel oder Taschen, und wurden sichtbar für die Öffentlichkeit erst auf dem Bahnhof der nahe Stollberg gelegenen alten Industriestadt Chemnitz, des »sächsischen Manchester«, das seit dem 10. Mai 1953 Karl-Marx-Stadt hieß und neuerdings eine von vierzehn Bezirkshauptstädten war, gemäß dem Beschluss der Volkskammer vom 23. Juli 1952 über die Neugliederung der Länder in Bezirke im »Gesetz über die weitere Demokratisierung des Aufbaus und der Arbeitsweise der staatlichen Organe«. Doch was das wirklich bedeutete, wenn sie es denn überhaupt erfahren hatten im scheinbar unveränderlichen isolierten Alltag hinter den hohen Mauern, vor denen Tag und Nacht scharf gemachte |19| Schäferhunde herumliefen und bellten, hinter den vergitterten Fenstern und verriegelten Türen der alten Burg Hoheneck über der Stadt, in der sie für Jahre ihr Leben fristeten, wusste keine von ihnen.
    Vor dem Hauptbahnhof verließen sie graugrüne Kleintransporter und eilten in die Schalterhalle, um von den Fahrplänen, die dort aushingen, abzulesen, von welchem Bahnsteig aus sich der Zug in Bewegung setzte, der sie endlich von hier fortbringen sollte, dem lang entbehrten Zuhause entgegen. Die meisten nahmen zunächst die Verbindung in Richtung Leipzig, dort erst trennten sich ihre Wege, falls sie nicht ein gemeinsames Endziel hatten. Die letzten dieser jungen Frauen in blauen Mänteln und weinroten Schals konnte man am 22. Januar dieses eher milden und regnerischen Wintermonats beobachten. Im Unterschied zu all denjenigen, die schon Tage früher den Weg gegangen waren, den auch sie jetzt zurücklegten, hatte diese Gruppe, für die kurzfristig eine ganze Veranda geräumt und zum Bettensaal umfunktioniert worden war, einige Zeit im Krankenhaus der Stadt Stollberg verbracht und noch geschwächter die Reise angetreten als ihre nun in alle Winde verstreuten Gefährtinnen zuvor. Ihre uniformierten Begleiter trugen ihnen ihre karge Habe fast bis an den Zug, um dann wortlos zu verschwinden. Wie ihre Vorgängerinnen auch, musste keine von ihnen eine Fahrkarte kaufen; sie alle verfügten über ein amtliches Dokument, auf dem nicht nur festgehalten war, dass es sich um einen »Entlassungsschein« handele, im Vordruck vermerkt waren auch die Aushändigung von Verpflegung und Reisegeld sowie die Charakterisierung des Papiers als Fahrtberechtigungsschein. Mit Schreibmaschine eingefügt hatte man die Namen der Frauen, ihre Geburtsdaten, Ort und Tag der Entlassung, das Reiseziel und die Höhe des Geldbetrages: Zehn Deutsche Mark waren jeder von ihnen demgemäß ausgehändigt worden. Beglaubigt war das Dokument mit einem kreisrunden violetten Stempel, in dessen Zentrum die Kokarde der Deutschen Volkspolizei |20| prangte, der
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher