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Vereister Sommer

Vereister Sommer

Titel: Vereister Sommer
Autoren: Ulrich Schacht
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Schriftzug im Innern, parallel zum äußeren Kreis, lautete: »Strafvollzugsanstalt Hoheneck«. Auch eine Unterschrift war vorhanden; doch der Name des Menschen, der sie geleistet hatte, schwungvoll und mit stahlblauer Tinte, blieb für alle, die ihn nicht kannten, unlesbar. Die Frauen, die den Entlassungsschein ausgehändigt bekommen hatten, wussten allerdings genau, wer die Unterschrift auf das Papier gesetzt hatte: Niemand anderes als der Leiter der Strafvollzugseinrichtung Hoheneck persönlich, Volkspolizei-Kommandeur Ahlborn. Die Fahrkartenkontrolleure der Deutschen Reichsbahn registrierten noch in jedem Fall sofort, wen sie vor sich hatten, streckte ihnen eine schmale Hand das amtliche Papier von der Größe einer halben DIN-A5-Seite entgegen. Belanglos, wie es von weitem aussah, war es von unschätzbarem Wert für seine Besitzer.
    Den meisten der jungen Frauen war das Erkanntwerden vollkommen gleichgültig, einer von ihnen ganz besonders. Vor vier Monaten war sie sechsundzwanzig Jahre alt geworden, ohne im Geringsten zu ahnen, dass es ihr letzter Geburtstag im Gefängnis sein würde, sechs hatte sie zu jenem Zeitpunkt an diesem Ort laut Urteil des Sowjetischen Militär-Tribunals vom 19. November 1950 noch vor sich, erst im August 1960 sollte sie heimkehren dürfen. Heim zu Tochter und Sohn, Mutter und Schwester, Schwager, Nichte und Freunden: zurück nach Hause. Nach Wismar an der Ostsee. Noch in ihrem letzten großen Brief aus dem Gefängnis an die Familie bestimmte die Aussichtslosigkeit, den Ort täglichen Schreckens und nächtlicher Seelenqual endlich verlassen zu können, den Ton, blieb die Perspektive verdüstert, führte die Traurigkeit angesichts der Unerreichbarkeit von Familie und Kindern die Feder: Die Sorge um ihr Wohlbefinden, nicht dasein zu können für sie, war die größte Last im brutal erzwungenen Fernsein. Und doch enthielt er auch viele kleine Momente von Würde und Hoffnung: über die Erinnerung an schönere Zeiten oder Hinweise auf die Gestaltung des bevorstehenden |21| Weihnachtsfestes, auch fragte er kryptisch nach dem Kontakt zu den Schwestern der Mutter, den Tanten, die im Westen wohnten, in Hannover und Düsseldorf, und versuchte andererseits sogar eine Kontaktaufnahme zu inspirieren, zu den Eltern einer Mitgefangenen aus der Heimatstadt. Mit all dem gerann der Brief so zum widersprüchlichen Notat des Alltags in einem Gefängnis, das mit ihr, der Schreiberin, vor allem Frauen umzwang, denen die Diktatur nicht mehr und nicht weniger als die Freiheit genommen hatte und damit oft auch, was am schwersten wog, die Nähe zu den eigenen Kindern, wegen nichts:
     
    Hoheneck, den 14.   11.   1953
     
    Meine liebe, gute Mutti, meine lieben kleinen Spatzen! Leider noch keine Post diesen Monat von Euch, aber wird schon noch kommen. Im letzten Monat warst Du sicherlich schon unruhig, weil die Post so spät kam, was? Mutti, bist Du noch gesund und die Kinder auch? Das ist mir immer das Wichtigste. In 14 Tagen ist schon 1. Advent und dann kommt ganz schnell Weihnachten. Ich darf dieses Jahr gar nicht dran denken. Es wird eben von Jahr zu Jahr schwerer. Die Geburtstage sind nun auch alle vorüber. War meine Dorle sehr enttäuscht, daß ihre Mami immer noch nicht da war? Ach, Mutti, je häßlicher mich alles umgibt, desto mehr denke ich an alles Schöne zu Hause und die Sehnsucht wächst. Aber wenn ich nicht alle schönen Erinnerungen hätte, dann wär’s traurig bestellt. Macht Angelika sich weiter so gut in der Schule? Glaubst Du, ich freue mich riesig über sie. Sie soll nur weiter so machen!! Wonach hat Susi an ihrem Geburtstag gegriffen? Sie muß ja ein rechter Wildfang sein. Na ja, bei den Eltern ja auch kein Wunder. Und was machen meine 2? Vom Jungen habe ich heute nacht geträumt. Mutti, weiß mein Ulli eigentlich noch, daß er irgendwo noch ein Mami hat? Oder nicht? Ich hab Angst vor der Stunde des Wiedersehens. Bei Dorle nicht, denn sie weiß es ja. Was machen Margarete und Horst?
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Hoffentlich geht es allen gut. Mutti, jetzt habe ich noch eine Bitte; kannst Du mir im Weihnachtspaket recht viel Kekse (eckig) und Lebkuchen sowie ausgepahlte Nüsse schicken. Rosinen, gibt’s die überhaupt? Bekommt Ihr eigentlich noch Post von Tante Käte + Dora? Wissen sie, daß ich hier bin? Ach so, 2 Seiflappen könnte ich noch brauchen, meine sind zu Ende. Für heute ist wieder Schluß. Es gibt gleich Essen und um 4 Uhr geht’s zur Schicht. Nun Euch allen recht, recht herzliche Grüße und
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