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Vereister Sommer

Vereister Sommer

Titel: Vereister Sommer
Autoren: Ulrich Schacht
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Küsse. Eure Wendelgard Annemaries Mutter war hier. Geh doch mal zu ihr. Fr. Grube Nr. 2. Paket soeben erhalten, vielen, vielen Dank.
     
    Doch nun war sie frei, so plötzlich, wie sie vor Jahren unfrei geworden war: hinter sich Hoheneck, die Gefängnisburg. Hinter sich Stollberg, das ihr und den anderen zwar zu Füßen gelegen hatte, zum Greifen nah, und doch all die Zeit über unerreichbar blieb wie Sonne, Mond und Sterne am Himmel hinter den Gittern oder das Grün von Wiesen und Bäumen auf den sanften Gebirgshängen des Erzgebirges, die den Ort umgaben, selbst im kältesten Winter blieb die Sehnsucht, den eigenen Fuß auf die Landschaft zu Füßen zu setzen, brennend. Hinter sich Karl-Marx-Stadt, wo sie zum ersten Mal seit dreieinhalb Jahren wieder einen Zug betreten hatte. Hinter sich auch Leipzig, dort war sie umgestiegen in den D 184, der sie nach Norden bringen sollte, bis der Schienenweg endete, weil die Küste erreicht war, die Küste der Ostsee, an der Wismar lag, seit Jahrhunderten. Mit seinen riesigen Kirchen und wunderschönen Giebelhäusern, mit der Wasserkunst und der Frischen Grube, mit dem uralten Backsteintor zum Hafen und dem großen Platz vor dem Rathaus, auf dessen Weihnachts- und Pfingstmärkten sie und ihre Geschwister, Straßen- und Schulfreundinnen so viel Spaß und Vergnügen gehabt hatten. Der Zug kam aus Dresden, sein Endbahnhof lag in Rostock, davor machte er halt in Leipzig, dann in Halle, Dessau, Magdeburg, Stendal, Wittenberge, Ludwigslust und Schwerin. Erst in Bad Kleinen, einem Ackerbürgernest und |23| Bahnknotenpunkt im Nordwesten Mecklenburgs, das nun nicht mehr so hieß, sondern aufgelöst worden war in die Bezirke Schwerin, Rostock, Neubrandenburg, musste sie erneut umsteigen und den Personenzug nach Wismar nehmen; von dort stammte sie, und dorthin wollte sie wieder zurück. Wenn die Deutsche Reichsbahn noch immer so pünktlich war wie früher, würde sie um 17 Uhr 35 in Bad Kleinen sein und, eine knappe Dreiviertelstunde später, gegen 18 Uhr 17, in der Stadt an der Ostsee ankommen.
    Es war sechs Minuten vor elf, als sich der D 184, auf die Minute genau und unter Dampfschwaden, Signalpfiffen und Räder- wie Lautsprechergedröhn, in Bewegung setzte und langsam aus der riesigen Halle des Leipziger Hauptbahnhofs zu rollen begann. Die junge Frau hatte ein Abteil gefunden, in dem niemand saß, auch stieg im Laufe der nächsten Stunden keiner zu. Sie bedauerte es nicht, sie war froh darüber. Sie wollte alleine sein, nur alleine. Erfüllt von unbändiger Freude und größter Angst zugleich, dem Anlass und Ziel dieser Freude seelisch nicht gewachsen zu sein, kauerte sie sich in einen der Sitze neben dem Fenster und blickte hinaus in den vorbeifliegenden Tag und zurück in die verflossenen Jahre. Ab und zu schlugen Regentropfen gegen die Scheibe, der Winter war nass in diesen Tagen. Sie verwischten die Realität draußen noch mehr. Nichts nahm sie wirklich wahr von den Städten, Dörfern und Landschaften, die der Zug passierte. Nichts von Mensch und Tier, nichts von den langsam sich schließenden Kriegswunden an Gebäuden, Bahnhöfen und Fabriken, die dreieinhalb Jahre zuvor noch so überdeutlich in den Gesichtern der Städte klafften, als sie am Nachmittag des 15. August 1950 von einem Kriminalkommissar der Deutschen Volkspolizei unter nebulösem Vorwand aus dem Hause gelockt und nur wenige Straßen weiter der sowjetischen Geheimpolizei übergeben wurde, um zunächst für Wochen, später für Monate spurlos verschwunden zu bleiben.
     
    |24| Noch immer sah sie sich, wie sie gerade dabei war, in der winzigen Wismarer Wohnung, in der sie zusammen mit ihrer Mutter und ihrer Tochter lebte, die knapp Zweijährige anzuziehen, die den Nachmittagsschlaf beendet hatte, als es gegen sechzehn Uhr klopfte. Sie nahm das Kind auf den Arm, ging zur Tür, öffnete und stand, ziemlich überrascht, einem in Zivil gekleideten Herrn gegenüber, an dessen Namen sie sich sogleich erinnerte, obwohl sie ihn nur flüchtig kannte: »Bernhardt, Kriminalpolizei!«, hatte er sich zwei Jahre zuvor militärisch knapp vorgestellt, in der örtlichen Handwerkskammer, wo sie damals arbeitete, als Kontoristin. Man ermittelte in jenen Tagen so kurz nach dem Krieg in einer Angelegenheit von Diebstahl: Schnaps war verschwunden, zwanzig Flaschen, ein gewisses Vermögen. Sie waren angeschafft worden, weil ein Fest bevorstand. Doch nun, über Nacht, waren sie verschwunden, und niemand konnte sich einen Reim darauf machen,
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