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Vereister Sommer

Vereister Sommer

Titel: Vereister Sommer
Autoren: Ulrich Schacht
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Spektakel aus gigantischen Flammen, Funkenschwärmen und Rauchschwaden. Im »Rossija« angekommen, gehen wir kurz auf unsere Zimmer, um uns danach noch zu einem letzten Bier in der Lobby zu treffen. Aber sogleich, nachdem wir die Gläser geleert haben, setze ich mich ab und laufe hinaus, um dem Feuer näher zu sein. Ich gehe auf die Brücke nahe dem Kreml, auf der einst Matthias Rust gelandet ist, sehe zahllose Lösch- und Polizeifahrzeuge mit unentwegt blitzenden blauen Lichtern im Einsatz. Polizisten drängen per Megaphon Privatautos ab. Ein kalter Wind treibt das Feuer an, die Funken sprühen unentwegt, im Schattenriss sehe ich gegen die Flammenwände kämpfende Feuerwehrleute, sie versuchen, von Dächern der Nebengebäude aus, tapfer zu löschen. Einer von ihnen hockt total erschöpft auf der Brücke, Helfer versorgen den in sich Zusammengesackten.
    Ich verlasse die Brücke und gehe langsam, mit eigenartig leerem Kopf, den Weg zum »Rossija« zurück. Im Hotel kaufe ich noch zwei Flaschen Wasser und falle todmüde ins Bett. Gegen vier Uhr dreißig treibt mich irgendetwas aus dem Schlaf. Unruhe erfasst mich plötzlich, ein bedrohliches Gefühl wabert durch Kopf und Raum. Mein Herz rast. Ich mache Licht und schlucke hintereinander eine Aspirin und drei kleine blassgelbe Valiumscheiben. Dann kommt der Schlaf zurück. Um elf Uhr wache ich wieder auf, fast fühle |217| ich mich erholt. Während ich mich dusche, klingelt das Telefon. John ist am Apparat, wir verabreden uns auf einen letzten Kaffee mit Adri und Christine, die drei fliegen erst morgen nach Amsterdam zurück. Meine Sachen sind schnell gepackt. Im Foyergeschäft kaufe ich Schokolade, Zigaretten und weitere Lackkästchen, schon an einem Stand auf den Leninbergen habe ich einige wunderschöne Exemplare gefunden: winterliche Klosterszenen, strahlend weiße Kirchen mit Zwiebeltürmen unter nächtlichem Himmel, einen prachtvollen heiligen Georg, wie er vom Pferd aus die Lanze in die sich windende Schlange, das Böse, stößt. Sie zeigen mir mehr als nur das Ergebnis uralten feinsten Kunsthandwerks. Sie zeigen die übergeschichtliche Wahrheit hinter den Überbildern der Geschichte, die sich immer wieder mit der Wahrheit verwechseln. Russland wird den Motiven auf diesen Kästchen wieder ähnlicher, und das ist gut für seine Menschen.
     
    Gegen dreizehn Uhr kommen Jurij und Julia, kurz darauf Konstantin. Er war am Vormittag noch einmal bei Kopalin und bringt mir von ihm die erbetene Kopie des Deckblatts der ewig aufzubewahrenden Akte von Vater und Mutter. Dort sei man begeistert, sagt er, über das Happy End unserer Familiengeschichte, zu dem sie, wie er hinzufügt, alle ein wenig beigetragen hätten. »Ein wenig?«, frage ich zurück. »Ohne euch gäb’s mich hier gar nicht.« Eine halbe Stunde später letzte Umarmungen, dann fahren wir los. Zuerst zu Vater, der schon mit seiner Frau am Straßenrand wartet und zusteigt. Jurij fährt über die Dörfer nach Scheremetjewo, vorbei am Kosmonautendenkmal, über finstere Landwege, durch kaputte Dörfer, vorbei an Siedlungen, die Schrotthalden ähneln. Hin und wieder wird die Tristesse von nagelneuen Häuseransammlungen unterbrochen, dröhnender Datschenkitsch leuchtet zwischen den Wäldern hervor, gebaute Filmphantasien der glitzerndsten Art: »Russischer Kapitalismus«, sagt Vater. Später zeigt er |218| auf gefrorene Flüsse und Seen, auf denen Angler stoisch auf Klapphockern oder Blechkübeln sitzen, ihr Glück versuchen, und erinnert an seine Zeit in Sibirien: Noch bis tief in den Juni hinein sei dort alles vereist, aber dann sei der Sommer umso heißer.
    Endlich liegt Scheremetjewo vor uns, schnell findet sich ein Parkplatz, zügig gehen wir ins Flughafengebäude. In der Abfertigungshalle steckt Jurij mir noch ein Farbphoto von sich und Alexandra zu. »Für Constanze«, sagt er, bevor wir uns ein letztes Mal verabschieden. Wieder spüre ich die kräftigen Arme Vaters, seine Küsse auf meinen Wangen, sehe seine Augen feucht werden, auch mir ergeht es nicht anders. Ich solle Grüße ausrichten, sagt er, Grüße an alle. »Du bitte auch«, sag ich. Dann lösen wir uns voneinander. Im Gehen winke ich den Winkenden, die hinter mir zurückbleiben, zu, bis ich die Sperre passiert habe und sie aus meinem Blickfeld verschwunden sind. Die anschließende Kontrolle vollzieht sich ohne Probleme. Im Andenken- und Presseshop kaufe ich zwei CDs der Gruppe »Lyzeum«, ein Video über die »Geschichte des KGB«, von dessen Cover
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