Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vereister Sommer

Vereister Sommer

Titel: Vereister Sommer
Autoren: Ulrich Schacht
Vom Netzwerk:
herrlichem, vom ewigen Ozean geschliffenen Geröll, es war mir weich wie ein Federbett, und dem Rauschen der Barentssee gelauscht, dem Möwengeschrei, dem
reinen
Nichts.«
    |212| Ob Konstantin das alles übersetzt, Wort für Wort? Egal, Vater wird es mir ansehen, was ich sage. »Es war unsere vierte Tour seit 1991«, erzähle ich weiter, »und es war die umfangreichste, mehr konnte man nicht sehen, es war aber auch die anstrengendste. Vorher sind wir immer mit dem Schiff gefahren, von der Akademie in Murmansk, das war geradezu entspannend dagegen, wir haben nicht selten unter der Mitternachtssonne an der Reling gestanden und mit einem Glas Wein in der Hand auf die grandiose Natur getrunken. Ich bin süchtig nach dieser Landschaft. Wie schön, dass du sie auch gesehen hast, sogar eher als ich. Das Buch über die beiden ersten Reisen habe ich dir mitgebracht.«
    Ich ziehe es aus dem Stapel meiner Bücher, die ich ohnehin dalassen will, und reiche es ihm. Er blättert ein wenig darin und guckt mich dabei immer wieder erstaunt an, legt es schließlich zur Seite. Ich deute fragend auf weitere Bilder von ihm: Auf einem steht er, mit offener Pelzjacke, langem Schal und dunkler Pelzmütze, wie ein Feldherr auf schneebedecktem Hügel, Birken und Tannen im Hintergrund, und zeigt mit dem erhobenen rechten Arm und zwei ausgestreckten Fingern in die Ferne. »Worauf zeigst du?«, frage ich. Er sieht sich das Bild näher an, dreht es um, liest die Notiz auf der anderen Seite, sagt: »Das war im März 1977, es ging um den Bau eines neuen Gebäudes. Für die Akademie. Es war eine schöne Zeit.« Wie schön, zeigen die Sommerbilder vom selben Ort: immer wieder Vater, im feinen Anzug und mit weißem Rollkragenpullover, zwischen Birken und grünem Gesträuch; oft lehnt er sich an einen der zarten Stämme, stützt sich mit angewinkeltem Arm daran auf, manchmal hat er eine Zigarette dabei im Mund, dann gerät die Anlehnung noch lässiger, fast verwegen. »Birken«, sage ich, »sind meine Lieblingsbäume«, und füge hinzu: »neben Eichen
.
« Unvermeidlich schießt mir jetzt Canettis Baum-Philosophie in »Masse und Macht« durch den Kopf, wo er vom Waldgefühl der Deutschen spricht: Der Deutsche fühle sich eins mit den Bäumen, |213| einmalig sei das unter den Völkern. Aber du bist kein Deutscher, Vater, denke ich, und dennoch siehst du zwischen den Birken für Canetti aus wie einer von uns. Von uns? Kann eine Hälfte ein Ganzes bilden, ein Ganzes nur die Hälfte sein? Einmal sieht man Vater mit Jurij und Slavik zusammen wie Verschwörer zwischen den Bäumen hervorlachen, wieder hängt lässig eine Zigarette in seinem Mundwinkel. Er hat seine Arme um die Jungen gelegt, locker und scheinbar ohne jedes Gewicht – jene Arme, mit denen er mich gestern und heute fast erdrückt hat. Eine wunderbare Leichtigkeit liegt auf den Gesichtern. Ein anderes zeigt Jurij und einen Freund in einem Motorboot auf dem Trockenen, sie kleben fast am Steuer, als jagten sie gerade mit höchster Geschwindigkeit über den Jenissej, auch Jurij hängt die Zigarette lässig aus dem Mundwinkel. Auf keinem der Photos, die er mir mitgebracht hat, es fällt mir auf, sieht man Vater oder die Brüder vor den Zeichen und Symbolen der untergegangenen Macht. »Warst du in der Partei?«, frage ich. »Ja«, sagt er, »schon früh.« Ist das ein Schock? Es ist kein Schock, selbst Solschenizyn war in der Partei. Ob er auch Kommunist war, frage ich nicht. Falls ja, hätte er einen Antikommunisten zum Sohn gehabt in jener Zeit, als er Mitglied der KPdSU war, der es zudem geblieben ist, auch wenn sie hier nicht mehr herrscht, die Partei, wie auch dort nicht, wo er ihn einmal gezeugt hat.
Verbrecher
, hat er sie gerade genannt, für jene Untat gegen Mutter, die im Repertoire ihres Schreckens eine der geringsten war. Er wird wissen, warum er sie Verbrecher nennt. Ich muss ihn an diesem Punkt nicht belehren. Mir genügt die Übereinstimmung in einem einzigen Wort.
     
    Auch Slavik, der mit vollem Vornamen Wjatscheslaw heißt, hat Photos mitgebracht: Slavik und Tamara, noch mit langem Haar, als Hochzeitspaar; Slavik, Tamara und Ljuba in Bikini und Badehosen im Sommerurlaub 1983. Slavik und Tamara, nun mit elegantem Kurzhaarschnitt, schickem schwarzem |214| Kleid, perlmuttenen Ohrclips und doppelter weißer Perlenkette gestylt, auf der Couch in der eigenen Wohnung, wie sie ihren Mann ernst und verliebt anschaut, der ihren Blick ebenso ernst und verliebt erwidert. Eine rosenschwere,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher