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Vereister Sommer

Vereister Sommer

Titel: Vereister Sommer
Autoren: Ulrich Schacht
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Kirchleins golden und blau, der Kreml steht noch, die Moskwa fließt wie eh und je, der Autoverkehr dröhnt, Glocken läuten, Menschen eilen geschäftig hin und her. Gestern aber ist weit weg. Ich gehe ins Bad. Esse danach ein paar mit Zitronencreme gefüllte Waffeln Marke »Bolschewik«, trinke Mineralwasser dazu und lege mich wieder hin. Ich kenne das, was mich jetzt, fast lähmend, erfasst, süß und schwer, den Körper flutend, die Seele entfesselnd: ein Verschwinden der Außenwelt in meinem Innern, das nun zum Außen wird. Seit Kindheitstagen kenne ich es: Was ich höre, höre ich nur noch gedämpft; was ich denke, denke ich laut und stumm zugleich. Hat das Telefon geklingelt? Ich bin nicht da. Ich bin da, wo ich bin. Wo bin ich? Ich bin im Reich der Frage nach dem Verhältnis von Wissen und Wirklichkeit, von Realität und Traum, von Zeit und Überzeit. Es geht nicht mehr um das zu Ende gebrachte Schicksalsspiel Vater, Mutter, Kind. Nicht um die deutschen Felder darin und die russischen. Nicht um Glücks- oder Unglücksregeln, nach denen es gespielt werden musste. Es geht um das Geräusch des Meeres, an das ich mich flüchtete – vor der Schule, der Lehre, der Diktatur, vor dem Geschrei des scheinbaren Zufalls, in dem man zum Überleben erwacht –, wenn ich in der Düne lag und es hörte, den Wind, die Möwen, sonst nichts, niemanden. Die Stunden verrannen, und mit ihnen verschwand die Welt. Nicht die Freiheit, wie ich früher glaubte, war das Ziel dieser Fluchten; das
Freisein
zog mich zu sich hinüber, wie ich mir heute gewiss bin, und mit aller Macht durchströmten seine Elemente mein Bewusstsein. Es ist die einzige Antwort geblieben, die ich restlos verstehe. Ein vollkommenes Trostgeschenk im vollkommen Untröstlichen.
    Um zwanzig Minuten nach zwölf klingelt das Telefon erneut: »In zehn Minuten«, sagt John, »treffen wir uns, im Cafe auf Etage 9/8. Bist du fit?« »Ich bin fit«, sage ich. »Ich war |202| gerade am Meer.« »Ach so«, sagt John und macht eine andeutungsreiche Pause: »Dann wird es ja Zeit, dass du jetzt einen Kaffee kriegst. Bis gleich.« »Wir müssen noch ein paar Schüsse machen«, sagt John, nachdem ich in die Etage 9/8 gefahren bin und Platz genommen habe am Tisch meiner Freunde und Mitstreiter, einen Kaffee bestellt und ein Zigarillo angezündet habe. »Ja«, sagt Adri: »Blick auf Moskau, von den Leninbergen vielleicht, den Arbat sollten wir auch mitnehmen, da platzt die Stadt fast vor Leben, was noch?« »Den Kreml«, sagt John, »am besten eine volle Umrundung.« »Die Lubjanka nicht zu vergessen«, erweitere ich die Motivliste und trinke den ersten Schluck heißen Kaffees an diesem Tag, er ist rabenschwarz und stark und das Zigarillo schmeckt verdammt gut dazu. »Wenn wir draußen fertig sind, müssten wir bei dir noch eine Tonaufnahme machen«, sagt Christine, als wir aufstehen, sie zündet sich gerade die dritte Zigarette während unseres kurzen Gesprächs an: »Den Brief an seinen Vater müsste er doch noch lesen, John, oder?!« »Unbedingt«, sagt John. »Mir schwebt da schon was ganz Bestimmtes vor. Hat er dir eigentlich gestern gesagt, ob er ihn erhalten hat?« John schaut mich jetzt an wie ein großes irritiertes Kind: »Er muss ihn doch bekommen haben, wir haben ihn ja vor drei Tagen eigenhändig in seinen Briefkasten gesteckt: Babuschkina 42, Quartier 202, ich kann das schon auswendig, und dann noch dieser Vorsitzende von seinem Veteranenverein, mit dem wir uns in der Nähe getroffen haben, eine unglaubliche Type, der wollte uns doch noch in letzter Minute abwimmeln, man soll alte Geschichten nicht aufrühren, bloß keine Kamera, keine Zeugen, die Hand vorm Gesicht, wie zu Breschnews Zeiten, wenn der nicht hundert Jahre beim KGB war!« »Der war schon bei der
Ochrana
«, sage ich, »so wie der aussieht, aber wahrscheinlich hat mein Vater den Brief erst gestern Abend gelesen, nach der Rückkehr von der Datsche. Da war meine Bitte darin allerdings schon überholt. Wir haben uns selber überholt, merke ich gerade. Müssen wir ihn wirklich noch aufnehmen?« »Was wir haben, |203| Verehrtester«, sagt John, »haben wir. Wegschmeißen kann man immer noch.«
    Zurück von den Außenaufnahmen, noch bei Sonne und blauem Himmel, und nach der anschließenden Tonaufzeichnung in meinem Zimmer, treffen wir uns um siebzehn Uhr zum Essen in der Hotellobby. Draußen ist es inzwischen wieder grau geworden, Schnee fällt. Wir nehmen nur wenig zu uns: Gewürzgurken, Brot, kaltes Huhn,
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