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Ruchlos

Ruchlos

Titel: Ruchlos
Autoren: Beate Baum
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1. KAPITEL
    Der Kaffee schmeckte seltsam. Ich stellte den schweren Steingutbecher ab und bemühte mich um ein Lächeln.
    »Es scheint uns zu gehen wie den zehn kleinen Negerlein«, sagte ich, traf den Blick von Simone Rendille, der dunkelhäutigen Praktikantin, und spürte, wie mir ein Hitzeschauer über den Rücken lief. »Ich meine dieses Kinderlied«, stotterte ich.
    Die junge Frau mit den entstellenden Aknenarben über den feinen Gesichtszügen nickte. »Also, heute Nacht hat es Andreas erwischt.«
    Ein Aufstöhnen ging durch die Lokalredaktion. Seit Wochen grassierte ein aggressives Magen-Darm-Virus in Dresden, vor einigen Tagen hatte es die Redaktion erreicht und nun war Andy bereits das vierte Opfer im Team. Rechnete man die zwei Kollegen hinzu, die freihatten, mussten wir mit weniger als der halben Besetzung unsere Seiten machen. Und ich fand mich in der Chefposition wieder, etwas, was ich nie gewollt hatte und wofür ich mich – so fand ich – überhaupt nicht eignete.
    »Könnte Martin nicht aus dem Urlaub kommen?« Hans stellte die Frage in der für ihn typischen, besonnenen Art.
    Dennoch durchzuckte mich der Gedanke, ob er darauf hinweisen wollte, dass Martin sich als Redaktionsleiter besser machte als ich. Ich schüttelte den Kopf.
    »Martin kommt erst am Sonntag aus Italien zurück. Ich rufe gleich oben an und frage, ob wir von irgendwoher eine Aushilfe bekommen können. Aber lasst uns erst einmal die morgige Ausgabe ohne solchen Luxus planen.«
    Wir schafften es, die anstehenden Termine abzudecken; darüber, wann die Texte geschrieben werden sollten, wollte ich lieber nicht nachdenken. Ich hatte noch eine Viertelstunde Zeit, bevor ich das erste Mal weg musste, und ging in Andreas’ Büro.
    Den Hörer in der Hand, saß ich da und starrte durch die schmutzigen Fenster in einen strahlend blauen Himmel. Ich war so müde, ich hätte mit offenen Augen einschlafen können. Bis drei Uhr früh war Andy ständig zwischen Bad und Schlafzimmer unterwegs gewesen, dann hatte ich den Notarzt angerufen. Als der Wecker klingelte, hatte ich das Gefühl, gerade erst eingeschlafen zu sein.
    »Frau Bertram, in den anderen Redaktionen sieht es doch nicht anders aus«, beantwortete der Chefredakteur meine Bitte um Unterstützung. »Dieses Virus grassiert doch überall.« Wenigstens klang seine Stimme mitfühlend. »Vielleicht können Sie einen freien Mitarbeiter überreden, für ein paar Tage im Haus mitzuarbeiten?«
    »Nach der letzten Honorarkürzung sind die guten Leute abgesprungen«, erinnerte ich ihn.
    »Holen Sie sie zurück. Sie sind jetzt die Chefin, Sie müssen das regeln.«
    Ich zwang mich, tief einzuatmen, bevor ich Müller darauf hinwies, dass in meinem Vertrag nichts von stellvertretender Redaktionsleitung stand und ich dafür auch nicht bezahlt wurde.
    »Gut, ich merke mir das mal vor.«
    »Das brauchen Sie sich nicht vorzumerken – stocken Sie den Honorartopf auf, damit ich Aushilfen bekomme!«
    »Wenn ich Ihren Etat aufstocke, sind Sie gerade so im Soll. Herr Rönn überzieht doch ständig, egal, wie die Vorgaben sind.«
    Es war nichts zu machen. Schließlich bot er mir an, einen weiteren Praktikanten zu schicken. Wohl wissend, dass uns damit kaum geholfen war, stimmte ich zu. Unzufrieden schaute ich auf die Uhr. Ich musste zu dem DREWAG-Termin, bei dem der lokale Energieversorger eine Stellungnahme über seine Verbindungen zu der russischen Gasprom abgeben wollte. Ich hatte keinerlei Hintergrundwissen dazu – mit dem ganzen Komplex hatte Andreas sich beschäftigt. Außerdem bekam ich plötzlich Hunger. Morgens war mir ebenfalls übel gewesen, sodass ich dachte, es sei nur noch eine Frage der Zeit, bis ich mich ins Bett legen müsste. Also war ich ohne Frühstück los. Jetzt öffnete ich Andys Schreibtischfächer auf der Suche nach etwas Essbarem – und musste laut lachen, als ich sah, dass mein Freund, der ständig jammerte, er wäre zu dick, Schokolade, Kekse, Salzgebäck und sogar einige Minisalamis in der untersten Schublade bunkerte. Heißhungrig brach ich einen Riegel von der Vollmilch-Sahne-Tafel ab, aß danach noch einen Cracker und ein Würstchen.
    *
    Als ich von der DREWAG zurück war, saß der neue Praktikant bei Ingeborg im Sekretariat und trank Kaffee. Er war Mitte 20 und trug eine locker sitzende schwarze Jeans und ein leuchtend blaues Hemd. Die kurzen Haare wiesen jenen Rebellenlook auf, mit dem sich in jüngster Zeit auch FDP-Anhänger so gern schmückten. Dabei war die Frisur sorgsam
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