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Camus, Albert

Camus, Albert

Titel: Camus, Albert
Autoren: Der Mensch in der Revolte
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Einleitung
Das Absurde und der Mord
    Es gibt Verbrechen aus Leidenschaft und Verbrechen aus Überlegung. Die Grenze, die sie scheidet, ist unbestimmt. Aber das Strafgesetzbuch unterscheidet sie recht bequem mittels des Vorsatzes. Wir leben im Zeitalter des Vorsatzes und des vollkommenen Verbrechens. Unsere Verbrecher sind nicht mehr jene entwaffneten Kinder, die zur Entschuldigung die Liebe anriefen. Sie sind im Gegenteil erwachsen und haben ein unwiderlegbares Alibi, die Philosophie nämlich, die zu allem dienen kann, sogar dazu, die Mörder in Richter zu verwandeln.
    Heathcliff in ‹Sturmhöhe› 1 würde die ganze Welt umbringen, um in den Besitz Cathies zu gelangen, aber er würde nicht daran denken zu behaupten, dass dieser Mord vernünftig oder durch ein philosophisches System gerechtfertigt sei. Er würde ihn vollbringen, darüber hinaus geht seine Überzeugung nicht. Das setzt die Kraft der Liebe und Charakter voraus. Da die Kraft der Liebe selten ist, bleibt der Mord aus Liebe eine Ausnahme und bewahrt jedes Mal die Gestalt eines Einbruchs in die Ordnung. Sobald man aber, mangels Charakters, nach einer Doktrin rennt, sobald das Verbrechen anfängt, seine Gründe in der Vernunft zu suchen, wuchert es wie die Vernunft selber und nimmt alle Formen logischer Denkschlüsse an. Es war einsam wie der Schrei, jetzt ist es allgemein wie die Wissenschaft. Gestern gerichtet, erlässt es heute Gesetze.
    Man wird sich hier nicht darüber entrüsten. Es ist das Anliegen dieses Essays, einmal mehr die Realität von heute: das Verbrechen aus logischer Überlegung anzuerkennen und seine Rechtfertigungen zu prüfen; dies ist ein Versuch, meineZeit zu verstehen. Man wird vielleicht der Meinung sein, dass eine Epoche, die in fünfzig Jahren siebzig Millionen Menschen entwurzelt, versklavt oder tötet, zuvörderst abgeurteilt werden muss. Freilich muss ihre Schuld verstanden werden. In jenen naiven Zeiten, da der Tyrann um seines größeren Ruhmes willen Städte dem Erdboden gleichmachte, da der an den Wagen des Siegers gekettete Sklave durch feiernde Städte zur Schmach defilierte, da der Feind vor versammeltem Volk den Raubtieren vorgeworfen wurde – angesichts so harmloser Verbrechen konnte das Gewissen fest und das Urteil klar sein. Aber die Sklavenpferche unter dem Banner der Freiheit, die Massenmorde, gerechtfertigt durch Menschenliebe oder den Hang zum Übermenschen, stürzen in gewissem Sinne das Urteil um.
    Am Tage, an dem das Verbrechen sich mit den Hüllen der Unschuld schmückt, wird – durch eine seltsame, unserer Zeit eigentümliche Verdrehung – von der Unschuld verlangt, sich zu rechtfertigen. Es ist der Ehrgeiz dieses Essays, diese befremdliche Herausforderung anzunehmen und zu untersuchen.
    Es geht darum zu wissen, ob die Unschuld, sobald sie zu handeln beginnt, sich vom Töten nicht abhalten kann. Wir können nur in dem Augenblick handeln, der uns gehört, unter den Menschen, die uns umgeben. Wir wissen nichts, solange wir nicht wissen, ob wir das Recht haben, den andern vor uns zu töten oder zuzustimmen, dass er getötet werde. Da jede Handlung heute direkt oder indirekt in einen Mord einmündet, können wir nicht handeln, bevor wir nicht wissen, ob und warum wir töten sollen.
    Wichtig ist zunächst nicht, zu den Wurzeln der Dinge hinabzusteigen, sondern zu wissen, wie man sich in der Welt, wie sie nun einmal ist, verhalten soll. In der Zeit des Neinsagens konnte es nützlich sein, das Problem des Selbstmordeszu erörtern. In der Zeit der Ideologien muss man sich mit dem Mord auseinandersetzen. Wenn der Mord Vernunftgründe hat, leben unsere Zeit und wir selbst in ihrer Konsequenz. Wenn er keine hat, leben wir im Irrsinn, und es gibt keinen andern Ausweg, als daraus einen neuen Schluss zu ziehen oder sich abzuwenden. In jedem Fall kommt es uns zu, klar die Frage zu beantworten, die uns im Blut und Getöse des Jahrhunderts gestellt wird. Denn das ist jetzt unsere Frage. Vor dreißig Jahren, bevor man sich entschlossen hatte zu töten, hatte man viel verneint, um sich schließlich selbst durch den Selbstmord zu verneinen. Gott betrügt, alle Welt, ich eingeschlossen, betrügt ihn, folglich sterbe ich: Der Selbstmord war die ganze Frage. Die Ideologie verneint nur noch die andern, die einzigen Betrüger. Von dem Moment an tötet man. Jeden Morgen schleichen sich herausgeputzte Mörder in eine Zelle: Der Mord ist das große Problem.
    Die beiden Gedanken halten sich gegenseitig. Oder vielmehr, sie halten
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