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Ruchlos

Ruchlos

Titel: Ruchlos
Autoren: Beate Baum
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eines der Zentren der Industrialisierung im 19. Jahrhundert gewesen – und dementsprechend heute eine ärmere Ecke, mit reichlich sozialen Problemen.
    In der Wachsbleichstraße standen jedoch fast nur sanierte Altbauten – alles wirkte ruhig und ordentlich. Ich schloss mein Fahrrad ab und klingelte bei ›Kattner‹. Nahezu sofort wurde die Haustür aufgedrückt und ich stieg in den zweiten Stock hinauf.
    Die Wohnungstür war angelehnt. Zögernd stieß ich sie auf und machte einen Schritt in den Flur hinein, der in einem frischen Sonnengelb gestrichen war.
    »Hallo?«
    Ein Poltern war zu hören, und Leon schoss wie ein Kugelblitz in den Flur. Seine gesamte Mundpartie war braun verschmiert.
    »Hallo!« Er strahlte mich an, obwohl man seinen Augen ansah, dass er geweint haben musste.
    Hinter ihm erschien seine Mutter. »Oh, ich dachte, es ist die Mutter von Leons Freund. Sie bringt die beiden heute zur Schule.« Sie trug einen roten Frottee-Morgenmantel, ihre halblangen blonden Haare hingen ungekämmt in die Stirn.
    »Es tut mir leid. Ich wollte Sie nicht stören.« Ich bereute meine spontane Idee. »Aber ich hätte Sie gern noch etwas gefragt.«
    »Sie stören nicht«, sagte Frau Kattner. »Kommen Sie doch herein. Möchten Sie einen Kaffee?« Auch ihre Augen waren gerötet.
    »Gern.«
    Zu dritt gingen wir in die Küche, die aus billigen Einbauelementen bestand, und setzten uns an den Tisch. Leon stopfte den Rest einer Weißbrotschnitte mit Nuss-Nougat-Creme in sich hinein, seine Mutter stellte mir eine Tasse hin und goss Kaffee ein.
    »Ich habe noch Zeit, bis der Bestatter kommt und meine Familie.« Ihre Gedanken schienen in der Luft zu hängen. » Dann müssen wir alles besprechen, Unterlagen durchsehen, was man eben so tut, wenn.« Abrupt brach sie ab, als ihr Blick auf ihren Sohn fiel.
    Ich wandte mich direkt an den Jungen: »Sag mal, Leon, kannst du dich noch erinnern, wie du gestern mit deinem Anruf bei uns in der Redaktion gelandet bist?«
    »Ich wollte die Tante Maria«, sagte der Kleine ohne Zögern.
    »Meine Schwester. Sie wohnt um die Ecke«, erklärte die Mutter. »Aber die Nummer hatte der Ops doch im Telefon gespeichert.«
    In diesem Moment klingelte es an der Tür; Leon nickte. » Die Taste hab ich gedrückt.«
    Frau Kattner ging in den Flur. Als sie zurückkehrte, wischte sie Leon das Gesicht mit einem Stück Küchenpapier ab. »Du hast das prima gemacht, mein Großer. So, jetzt gib der Frau von der Zeitung die Hand und sag Tschüss.«
    Als der Junge draußen war, erklärte ich: »Ihr Großvater war häufiger Gast bei uns in der Redaktion. Deshalb hatte er wahrscheinlich auch die Telefonnummer gespeichert. Leon wird in der Aufregung eine Taste verwechselt haben.«
    Frau Kattners Lächeln war traurig und verständnisinnig zugleich. »Ja, das ist gut möglich. Mein Opi war auf der Höhe – in jeder Hinsicht. Die Zeitung hat er jeden Tag von vorn bis hinten gelesen. Und wenn Sie glauben, dass er uns gebraucht hätte, um Telefonnummern abzuspeichern.« Sie begann zu schluchzen. »Entschuldigen Sie.«
    Ich stand auf und riss ein Stück von der Haushaltsrolle ab, reichte es ihr. »Es ist meine Schuld. Ich hätte Sie nicht daran erinnern sollen.« Unbehaglich trank ich einen Schluck Kaffee.
    »Ach, ich denke doch sowieso die ganze Zeit an ihn. Da sollte man meinen, wenn jemand so alt geworden ist – aber er stand noch so mitten im Leben! Man denkt einfach nicht an so was.«
    »Er war nicht krank?«
    »Er hatte diesen Magen-Darm-Virus. Den haben wir wohl alle unterschätzt. Und wer weiß: Wenn ich bei ihm gewesen wäre, vielleicht hätte man noch etwas machen können …«
    Die Tränen liefen ohne Unterlass ihre Wangen herunter. Ich legte meinen Arm um sie, spürte, wie ihre Schultern bebten, und wusste nicht, was ich sagen sollte.
    *
    Ich blieb über eine Stunde bei Michaela Kattner. Sie beruhigte sich nach und nach, erzählte dann von ihrem Großvater. Er war ein außergewöhnlicher Mann gewesen. Aufgewachsen im Faschismus, hatte er sich m it 18 dem Widerstand angeschlossen und in Leipzig, wo er damals lebte, Verstecke organisiert für Menschen, die untertauchen mussten. Er selbst war dreimal verhaftet und Folter-Verhören unterzogen worden, zum Schluss war er im KZ Sachsenhausen gelandet. In den Nachkriegsjahren hatte er sich voller Elan dem Aufbau eines neuen, gerechten Deutschlands gewidmet.
    »Dann hat er resigniert«, meinte sie mit einem Lächeln, das weit in die Vergangenheit zurückführte. »Das
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