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Ruchlos

Ruchlos

Titel: Ruchlos
Autoren: Beate Baum
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seines ›Ops‹ entlockt hatte. Dann bat ich ihn, ruhig zu bleiben und nur die Tür zu öffnen, wenn ich dreimal lange klingeln würde, verständigte den Notarzt und stürmte ins Sekretariat, griff mir den Schlüssel für einen Dienstwagen.
    Zum Glück waren die Straßen frei, und ich schaffte es in wenigen Minuten von der Prager Straße in die Friedrichstadt. Schon von Weitem leuchtete die bunte Kuppel der Yenidze, einer ehemaligen Zigarettenfabrik in Gestalt einer riesigen Moschee, am Abendhimmel. Ich fuhr am Bahnhof Mitte unter den Gleisen her und fädelte mich in die Wachsbleichstraße hinein. Da stand auch schon ein Krankenwagen. Wahrscheinlich war er vom Krankenhaus gegenüber gekommen.
    In dem Wagen war niemand, die Haustür des schlichten, sanierten Altbaus, vor dem er in zweiter Reihe abgestellt war, stand offen. Ich parkte ebenfalls verkehrswidrig und lief in das Haus. Auf der Treppe stieß ich auf die zurückkehrenden Rettungssanitäter.
    »Was ist? Erster Stock, hatte ich doch am Telefon durchgegeben!«
    Hinter den beiden jungen Männern tauchte eine Frau Ende 40 auf.
    »Silbermann. Ich bin die Notärztin. Da oben scheint niemand zu sein. Sie hatten uns verständigt?«
    »Ja. Ein kleiner Junge hatte sich wohl verwählt. Er hat bei uns in der Redaktion angerufen, und.« Einen Moment lang dachte ich an einen dummen Kinderstreich, aber dazu hatte die Stimme zu verängstigt geklungen. Dann fiel mir ein, was ich dem Jungen eingeschärft hatte. »Kommen Sie!«
    Ich drängte mich an den dreien vorbei die Treppe hoch und klingelte bei ›Wachowiak‹ dreimal lang. Direkt darauf wurde die Tür einen Spaltbreit geöffnet und ein rundes Gesicht erschien.
    »Du bist Leon, nicht wahr?«
    Die Tür wurde etwas weiter geöffnet und der Junge nickte.
    Mir fiel es immer sehr schwer, einzuschätzen, wie alt Kinder waren. Leon ging mir kaum bis zum Nabel und war so dick, dass er wie ein Kleinkind wirkte. Dazu sprach er aber zu verständig.
    »Der Ops ist hinten im Schlafzimmer. Ich habe hier gewartet.«
    »Du bist ein braver Junge.«
    Ich folgte der Richtung, die Leons Hand angezeigt hatte, durch einen düsteren Flur, hinter mir die Ärztin und die Sanitäter. Im Schlafzimmer war es durch die Straßenlaterne vor dem Fenster etwas heller. Die Möbel bestanden aus schlichtem, anscheinend massivem Holz. Auf der rechten Seite eines breiten Ehebettes lag ein alter Mann. Sofort dachte ich, dass ich ihn schon einmal gesehen hatte. Allerdings nicht so, mit solch einem Gesichtsausdruck.
    Die grauen, stark zurückgewichenen Haare sahen drahtig aus. Der obere Teil seines Kopfes war breit, die Stirn flächig. Hinter den ausgeprägten Wangenknochen fiel das Gesicht regelrecht ein. Die blassblauen Augen starrten mich weit aufgerissen und voller Panik an. Hatte er etwas Fürchterliches gesehen oder erlitten? Unter der Bettdecke ragten zwei dünne Knie auf, als habe der alte Mann in einer letzten, krampfartigen Bewegung die Beine angezogen.
    Was war hier passiert? Mir brach der Schweiß aus und ich griff mit beiden Händen nach dem Fußteil des Bettes, um Halt zu finden.
    Frau Silbermann schob mich sanft beiseite, öffnete ihre Tasche und begann mit den Untersuchungen. Ich drehte mich um und sah Leon, der im Türrahmen stand und uns beobachtete, ging vor ihm in die Hocke, damit ich in seine Augen sehen konnte. Sie waren ebenfalls blau, aber von einem tiefen, dunklen Farbton. Jetzt füllten sie sich mit Tränen.
    »Ist der Ops …?«
    Ich wusste nicht, ob er sich scheute, das Wort auszusprechen, oder es nicht kannte.
    »Ja.« Hilflos strich ich ihm über den Kopf. »Wohnst du mit deiner Mutter auch hier in der Wohnung?«
    Stumm schüttelte er den Kopf, verfolgte wie hypnotisiert die Bewegungen der Ärztin. Als ich zu ihr hinsah, schloss sie gerade ihre Tasche und nickte den Sanitätern zu. Die zwängten sich an uns vorbei. Gleich würden sie mit einer Bahre zurückkommen und den alten Mann abholen. Den Anblick wollte ich Leon ersparen.
    »Ich habe fürchterlichen Durst«, sagte ich, indem ich aufstand und den Jungen sanft in den Flur schob. »Zeigst du mir, wo die Küche ist?«
    In dem kleinen Raum wusste ich, woher ich die Möbel kannte. Vor Jahren hatte ich einen Bildband über die Deutschen Werkstätten Hellerau durchgeblättert. Hier sah ich die schnörkellosen Qualitätsstücke im Original. Auf der linken Seite erstreckte sich ein Einbauschrank aus hellem Eichenholz von Wand zu Wand, ihm gegenüber trug ein Spültisch der gleichen
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