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Vereister Sommer

Vereister Sommer

Titel: Vereister Sommer
Autoren: Ulrich Schacht
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gegenüberliegenden Tischende niedergelassen. Christine raucht heute Abend nicht mehr, das will etwas heißen. Konstantin aber ist strategisch so platziert, dass er die Gespräche zwischen Vater, den Brüdern und mir mühelos hören und in verschiedene Richtungen übersetzen kann, und es funktioniert. Spricht er Russisch, finde ich Zeit für Notate, die das Gefragte, Gesagte und Gehörte bergen, bevor es verlorengeht. An dieser Tafel wird es nicht still, zwischendurch hält John eine Rede, er besingt geradezu das Glück der beiden letzten Tage, das seine holländischen Kollegen und Freunde ähnlich empfänden wie wir, auch wenn sie nur Zeugen seien, nicht unmittelbar Betroffene. Dennoch bleibe es eine Sternstunde für ihn als Regisseur, und er habe schon viel gesehen und gefilmt auf der Welt. »Alle diese Geschichten sind einmalig gewesen«, sagt er zum Schluss, »aber |208| eure gehört nicht in diese Reihe. Eure ist einfach nur
wunderbar
.« Nach dem Beifall dafür erheben wir unsere Gläser und trinken auf die Gesundheit aller, dann spreche ich einen Toast auf das Team aus und auf Konstantin, mit dem in Moskau alles das wieder angefangen hat, was vor fast einem halben Jahrhundert in Wismar schon zu Ende gewesen zu sein schien.
    Irgendwann tauschen Vater und ich Bilder. Er hat mir einen ganzen Packen mitgebracht, ich ein paar winzige Photos mit gezacktem Rand aus jener Zeit, da Mutter im Gefängnis und ich bei meinen Pflegeeltern war: ein properer kleiner Kerl von etwa zwei Jahren läuft da, im Frühjahr 1953 vielleicht, unter der Sonne in einer Straße Wismars umher, in der er bei Tante Grete und Onkel Horst wohnt und ein paar Häuser weiter Oma und die Schwester finden kann, aber dass seine Mama in derselben Straße abgeholt worden ist, vor Jahren, sieht man ihm nicht an, er weiß es ja nicht. Er lacht vielmehr und strahlt und hält seinen prächtigen Stoffhund stolz und fest im Arm, und die feinen Schühchen, die er trägt, glänzen, die weißen Strümpfchen leuchten, ein adrettes Jackettchen hat er an, kurze Hosen, und das blonde Haar ist artig seitengescheitelt und festgeklammert worden. Die Welt ist heil, sagt das Photo, ganz und gar heil. Nichts Böses unter der Sonne. Vater kennt die Straße, in der sein kleiner Sohn da steht, sitzt oder promeniert und dem Menschen, der ihn photographiert, unverwandt entgegenlacht; aber
erinnert
er sie auch, jetzt, in dieser Minute? Erinnert er seinen Gang durch diese Straße im Schutze der Dunkelheit, sein Klopfen ans Fenster im Parterre des Hauses mit der Nr. 31, seine Frage an Großmutter nach Dolores, der Tochter seiner verschwundenen Christa, und wie es der Kleinen gehe? »Weißt du«, sage ich ihm, während er das Bild betrachtet, »ich bin zwar der älteste deiner Söhne, aber ich habe gerade das Gefühl, der jüngste zu sein!« Bevor er etwas antworten kann, reiche ich ihm einen Stapel mit Kopien aus seiner und Mutters Geheimdienstakte. Sofort versinkt er |209| darin, liest über sich, über sie, liest sich fest, vergisst die Gesellschaft, die ihn umgibt, scheinbar vollkommen.
     
    Als er wieder in die Gegenwart zurückkehrt, hat er Tränen in den Augen und flüstert leise, ihr bräunliches doppeltes Haftphoto in der Hand – Seitenprofil, Frontalaufnahme, Name, Vornamen auf Russisch, Geburtsjahr –, das Oberst Kopalin mir als Geschenk überreicht hat:
»Christa!«
Dann lauter:
»Warum haben sie einer so jungen Frau dies nur angetan?! Wegen nichts, diese Schweine, Verbrecher, wegen nichts!«
Ich schweige, die Frage richtet sich an niemanden, der im Raum ist, und die Antwort darauf kennt von allen, die an der Festtafel sitzen, mit Gewissheit er am genauesten. Sie hat mit ihm am wenigsten zu tun und vielleicht auch am meisten. Wie löst man unauflösbare Widersprüche auf? In dem man so tut, als gäbe es das nicht, das Verhängnis, die schuldlose Schuld, den unausweichlichen Irrtum? Und nachbohrt und nachbohrt, bis man endlich auf das gestoßen ist, was man gar nicht sehen will: das Schwarze Loch der Geschichte, in dem alles verschwunden ist, unterschiedslos und für immer? Nein, ich hebe stattdessen mein Glas. Er versteht und greift nach dem seinen. Wir stoßen an. Wir trinken. Roten Wein aus Georgien. In Moskau. Ein Jahr vor dem Ende des Jahrtausends. Ein Vater und sein Sohn, das Natürlichste von der Welt. Während er sein halbvolles Glas wieder absetzt und ich mein geleertes nachfülle, fragt er mich, ob und wann Mutter geheiratet hat? Und, falls ja, was für ein
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