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Vereister Sommer

Vereister Sommer

Titel: Vereister Sommer
Autoren: Ulrich Schacht
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Salat. Dazu Bier. Danach einen Kaffee. Geschlemmt wird später. In gut drei Stunden – Christine ist seit gestern ziemlich erkältet, will aber, was uns freut, trotzdem mitkommen – wollen wir uns mit Vater, den Brüdern, ihren Frauen und Töchtern treffen, mit Konstantin und Susanna, unserer niederländischen TV-Kontakt frau in Moskau, auch ihr Lebensgefährte wird dazustoßen. Das Restaurant, in dem das Fest heute Abend stattfinden soll, hat sie vorgeschlagen. Es ist ein georgisches und heißt »Goeria«. Ich hätte auch gar nicht gewusst, wo wir hingehen könnten. Es sei das beste seiner Art in der Stadt, hat sie gesagt, zur Zeit jedenfalls. Morgen könne es schon ein anderes sein, Moskaus Gastronomie expandiere gerade wie verrückt. Warum nicht, hab ich gedacht, auf nach
Georgien
! Seit meinen Kindheitstagen hat mich dieses ferne Land am Schwarzen Meer gefesselt, und das, wenn ich es ganz genau nehme, mit einem einzigen Film, den ich 1961 im Wismarer »Volksfilmtheater« sah, an einem Sonntagvormittag, die Kinokarte für fünfundzwanzig Pfennige, da war ich neun Jahre alt, vielleicht auch schon zehn, falls es im Sommer gewesen ist. Der Film hieß »Der Mameluck«. Der dramatische Streifen erzählte die tieftraurige Geschichte eines grusinischen Jungen in meinem damaligen Alter, der gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts in einem Küstenort am Schwarzen Meer lebt, in der freien, südlich-üppigen Natur Ziegen hütet, Eltern, Geschwister und Spielgefährten liebt und mit ihnen, wie alle in ihrer Umgebung, kirchliche wie weltliche Feste feiert, als gäbe es nur diese eine vertraute Welt, unveränderbar, immer und ewig. |204| Doch eines Tages geschieht das unfassbar Schreckliche, in dessen Folge dieses erste Leben des kleinen Jungen von einer Minute zur anderen beendet ist und ein zweites seinen Lauf nimmt, das nicht nur radikal anders ist als das alte, vertraute – mit ihm bricht ein anhaltendes Verhängnis über ihn herein. Es versucht, seine ursprüngliche Identität zu zerstören: unbarmherzig, fremdbestimmt, restlos. Von Sklavenjägern geraubt, wird er mit anderen Kindern ins islamisch beherrschte Stambul verschleppt, dann in den Vorderen Orient verkauft. Chwitscha, so heißt der Kleine, landet schließlich in Ägypten, am Hofe des Paschas Ali-Bey. Alles, was ihn einst prägte, muss er nun vergessen. Gequält von Heimweh und Sehnsucht nach seinem Zuhause, wird er in vielen Jahren dennoch zu einem berühmten Mameluckenkrieger, bekannt für seine Unerschrockenheit und Härte:
Machmud
sein Name. Der Bruch mit dem neuen Leben beginnt durch einen Zufall, und der Zufall heißt Zira, ein junges Mädchen aus dem Harem des Paschas: Auch sie eine Entführte, ist sie doch zugleich niemand anderes als eine Jugendgespielin des einstigen Chwitscha. Doch ihr Fluchtplan wird verraten und Zira hingerichtet. Machmud aber verschwindet in einem Verlies. Nach vielen Jahren darf er es zwar wieder verlassen, aber nur, um sich in neuen Schlachten zu bewähren. Sein tollkühner Einsatz wird belohnt, erneut kommt er zu Ehren, doch hat er mit seinem Mut zuletzt nur eines gesucht: den Tod, um all das, was ihn quält, für immer vergessen zu können. 1798 fällt Napoleon mit einem großen Expeditionsheer in Ägypten ein. Als einer der Führer des Mameluckenheeres leistet auch Machmud erbitterten Widerstand. Am Ende steht er, in mörderischer Schlacht, einem feindlichen Hundertschaftsführer in venezianischer Uniform gegenüber. Zu spät erkennt Machmud im tödlichen Getümmel – ein Muttermal ist das Zeichen –, dass dieser feindliche Fremde kein anderer ist als sein Jugendfreund Gotscha. Der Tod triumphiert dennoch nicht, weil er das Entscheidende nicht verhindern kann: dass die einst so brutal Auseinandergerissenen |205| sich in den letzten Minuten ihres Lebens nicht als Fremde begegnen, als
Feinde
, sondern
so
füreinander da sind, wie sie es schon in den Tagen ihrer Kindheit waren, in der verlorenen Heimat, im fernen Grusinien: als
Freunde
. Natürlich hat mich dieser Film zu Tränen gerührt, und natürlich habe ich ihn auch deshalb nie vergessen. Und natürlich weiß ich, dass er mir das Fest heute Abend gar nicht verdunkeln
kann
, er ist ja zuletzt
gut
ausgegangen: das Entscheidende, die Erinnerung an das wesentlich Eigene, konnte nicht zerstört werden. Aber die Geschichte hat mich zu jener Zeit mit einer Macht überfallen, als hätte ich sie selber erlebt. Wohl deshalb ist sie mir nie wirklich aus dem Sinn gegangen, auch wenn
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