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Der Mann von Nebenan

Der Mann von Nebenan

Titel: Der Mann von Nebenan
Autoren: Amelie Fried
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EINS
     
    Kate erwachte vom Fauchen eines Drachen. Schlaftrunken torkelte sie zum Fenster und klappte die Läden auf. Grelles Sonnenlicht stach ihr in die Augen.
     
    »Fffffff« machte der Drache, und Kate blinzelte. Langsam schälten sich aus dem gleißenden Licht die Umrisse eines Heißluftballons, der im Abstand von wenigen Metern an Kates Gesicht vorbeischwebte. Mit lautem Zischen fuhr ein Feuerstoß ins Innere des Ballons, und Kate wünschte, sie würde dort oben schweben, in sicherem Abstand zur Erde und den Ereignissen der letzten Wochen.
    Sie rieb sich die Augen und gähnte. Zaghaft streckte sie die Arme der Sonne entgegen. Am Horizont zeichneten sich die milchigen Umrisse der Berge ab, hügelige Weiden und tiefgrüne Waldstücke dehnten sich vor ihren Augen. Kein Zweifel, sie war in einem der malerischsten Teile Bayerns gelandet, in einer Postkartenidylle, für deren Anblick manche Leute Tausende von Kilometern um die Welt reisen.
    Sie sah dem Ballon eine Weile nach, dann drehte sie sich um und blickte ins Zimmer. Durch die Bewegung wurde Staub aufgewirbelt, der sie in der Nase kitzelte und einen Niesreiz auslöste. Mit geöffnetem Mund und erwartungsvoll geblähten Nüstern stand sie da und wartete, aber die befreiende Entladung blieb aus.
    Im Schlafzimmer sah es aus wie nach einem Flugzeugabsturz. Aus halbgeöffneten Koffern quollen Kleider und Bücher; der Boden war bedeckt mit Kisten und Taschen. Auf dem Bett lag der zusammengeknüllte Schlafsack, in dem Kate die Nacht verbracht hatte. Ihre erste Nacht hier draußen.
    Sie betrachtete die Möbel. Ein wuchtiger, alter Bauernschrank, eine bemalte Kommode mit verblaßten Farben, die aus Indonesien stammen könnte, ein kunstvoll geschnitztes Nachttischchen, ebenfalls asiatisch. Ein aus Rattan geflochtener Sessel, ein Eckregal, in dem sich allerhand Krimskrams angesammelt hatte, wie man ihn von Reisen nach Hause bringt. Auf allem eine feine Staubschicht.
    Eigentlich ganz schön, dachte Kate, wie um sich selbst Mut zu machen. Die Vorstellung, in fremden Möbeln zu leben, erschien ihr eigenartig, fast obszön.
    Sie ging die Treppe hinunter und öffnete die Haustür, frische Morgenluft strömte herein.
    In der Küche wirkte alles seltsam verschwommen, ohne Konturen. Vermutlich war es nur der Schmutz. Seufzend nahm Kate sich vor, in den nächsten Tagen das Haus gründlich zu putzen. Einen Ort zu reinigen bedeutete für sie auch, ihn in Besitz zu nehmen.
    Sie kramte in den Schrankfächern, bis sie einen verkrusteten Espressokocher entdeckte. Als sie den Wasserhahn aufdrehte, quoll ihr rostige Brühe entgegen. Sie ließ das Wasser eine Weile laufen. Es wurde heller, blieb aber eiskalt. Richtig, sie mußte erst die Heizung in Gang kriegen. Ihr graute davor, in den Keller zu steigen und irgendwelche Knöpfe an einer wildfremden Maschine zu drücken. Womöglich jagte sie die ganze Bude in die Luft. Noch nie hatte sie sich um solche Dinge kümmern müssen, das hatte immer Bernd getan.
    Kate reinigte den Espressokocher, füllte einen kläglichen Rest Kaffeepulver ein, dessen Aroma sich vermutlich längst verflüchtigt hatte, und schraubte die zwei Teile zusammen. Wenig später ertönte das vertraute Blubbern, mit dem das Wasser in der Maschine hochstieg. Sie erwärmte die Milch, die sie vorsorglich gestern noch eingekauft hatte, goß sie mit dem Kaffee in eine Tasse und trank den ersten Schluck, wie immer mit geschlossenen Augen.
    Lautes Geschrei ließ sie zusammenzucken. Sie riß die Augen wieder auf. Was war das? Vor Schreck hatte sie einen Teil des Kaffees verschüttet.
    Der Lärm kam von draußen. Vor dem Haus sah Kate ein Gewühl aus verknoteten Gliedmaßen, aus dem hie und da ein rotblonder Haarschopf blitzte.
    »Samuel!«
    Ihr Sohn reagierte nicht. Hingebungsvoll prügelte er sich mit einem anderen Jungen.
    »Samuel, hör sofort auf!«
    Kates Stimme wurde lauter. Die zwei Knaben hielten inne, nicht aus Gehorsam, sondern aus Erschöpfung. Samuel wandte ihr sein sommersprossiges Gesicht mit den strahlendblauen Augen zu, von denen eines gerade zuschwoll.
    Energisch ging Kate auf die zwei Raufbolde zu und stieß fast mit einer Frau zusammen, die ebenfalls Kurs auf den Ort des Geschehens genommen hatte.
    Sie war eine auffallende Erscheinung, groß, mit fast taillenlangem schwarzem Haar und südländischem Aussehen. Kate schätzte sie auf Ende Dreißig, ein paar Jahre älter als sie selbst. Um den Hals trug sie eine Kette mit einem großen Anhänger, einem in Silber
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